Ich mache viele Scherze, aber mit der Gnade ist es mir recht christlich ernst – sie beherrscht seit langem mein ganzes Denken und Leben.“ Diese späte Äußerung Thomas Manns (1885–1955) war eine Zuspitzung seines Lebenswerks, das sich immer mehr auf diesen Punkt konzentrierte. Gnade war das Herzenswort seines letzten Jahrzehnts, schreibt Dieter Borchmeyer, Professor emeritus an der Universität Heidelberg und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, in seinem Buch über Thomas Mann; das Buch will ausdrücklich keine Biographie sein, sondern handelt über Manns „Werk und Zeit“, wie es im Untertitel heißt und ist dabei ein großartiges Zeitpanorama.
Höflichkeit gegen den armen Protestanten
Die Gedanken um Gnade gipfelten in die Zeit seines Romans „Der Erwählte“ (1951), einer Büßerlegende, in der der Sünder Papst wird; die Vorlage hierfür ist Hartmann von Aues Versepos „Gregorius“ aus dem Mittelalter. Dass Thomas Mann dann zwei Jahre später eine Audienz bei Papst Pius XII. erhält, wird zu seinen stärksten Erlebnissen gehören. „Am Mittwoch, den 29. April Spezial-Audienz bei Pius XII., rührendstes und stärkstes Erlebnis, das seltsam tief in mir wirkt“, schreibt er 1953 nach seiner Rom-Reise in sein Tagebuch. Er notierte auch, dass der Papst lange seine Hand hielt. Das viertelstündige Gespräch über Deutschland und Rom führte den Papst zurück zu Erinnerungen an einen Besuch auf der Wartburg in seiner Zeit als Nuntius, wo er ausgerufen haben soll: „Das ist eine gesegnete Burg“. Der Protestant Thomas Mann kommentierte das nach dem Gespräch mit den Worten: „Was doch für einen katholischen Kirchenfürsten eine bemerkenswerte Äußerung ist“, nachdem er den Papst zuvor darauf angesprochen hatte, „dass die „homines religiosi im Grund eines Sinnes“ seien, woraufhin der Papst „lebhaft“ zustimmte, „vielleicht doch nur aus Höflichkeit gegen den armen Protestanten, der übrigens ohne die leiseste Hemmung das Knie beugte“, wie sich Mann porträtierte.
Diese für Thomas Mann sehr wichtigen Eindrücke kamen dadurch zustande, dass sich Mann intensiv um die Audienz bemüht hatte, um über die „Einheit der religiösen Welt“ zu sprechen. So schrieb Thomas Mann an Reinhold Schneider: „Um Ihre katholische Basis und Bindung sind Sie zu beneiden. Mir fehlt diese Geborgenheit, denn mein Protestantismus ist bloße Kultur, nicht Religion.“ Mann hatte schon lange eine tiefe Sympathie für das Papsttum, ein Heimweh nach den vor-schismatischen europäischen Zeiten, wie er es nannte. Das kommt nicht nur in „Der Erwählte“ zum Ausdruck, auch schon im „Gesang vom Kindchen“ (1919). Das Gefühl der Einheit der religiösen Welt bot ihm Ersatz für seinen unverbindlichen Glauben, dessen Grenze er aber nie zur Verbindlichkeit zu überschreiten vermochte. Dieses Gefühl, vor der offenen Tür zu stehen, begleitete Thomas Mann schon bei der Niederschrift seiner Joseph-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ aus den Jahren 1933 bis 1943.
Der Roman wurde unter der Hand, weil Mann 1938 aus der Schweiz nach Amerika emigrierte, zum Exilroman, denn die Emigration wird selbst zum Thema. Gemäß der damaligen Zeit wurde auch bei Mann das Mythische zum Thema, aber in entschiedener Abgrenzung zum grassierenden Obskurantismus und in dieser Überschreitung zum einen Gott hin. Deutlich wird das im Kapitel „Wie Abraham Gott entdeckte“ in dem frühen Romanteil „Der junge Joseph“. Zunächst dachte Abraham, nur Mutter Erde brauche den Dienst des Menschen, aber er verstand, dass die Erde auch Regen vom Himmel brauche, wo er die Sonne und Sterne sah; aber auch die brauchen einen „Lenker und Herrn“.
Enge Verbindung zu Joseph durch sein eigenes Exil
Borchmeyer bringt das Verhältnis von Abraham und Gott im Roman auf die Formel: „Der springende Punkt der theologischen Dialektik des Abraham-Kapitels liegt darin, dass Gottes Eigenschaften zwar eine objektive Größe unabhängig von Abraham haben, zugleich aber Produkt seiner Erkenntnis sind, ,also sowohl dem Außensein Gottes wie auch gleichzeitig der Seelengröße Abrahams‘ angehören.“ Der Gott Abrahams ist bei Mann somit keiner der auch von ihm geschätzten mythischen Götter, sondern die „einzige personal-transzendente Gottheit“, wie Borchmeyer formuliert; eine Gottheit, von dem es keine persönliche Geschichte gibt wie von den Göttern, was aber nur von der Vergangenheit, nicht von der Zukunft gelte.
Um die Zukunft ging es Mann aber auch in seinem gesamten Josephs-Roman, der für ihn die Manifestation des „eigentlichen Deutschlands“ sein sollte. Durch die enge Verbindung von Manns eigenem Exil und dem des Josephs bekommt der Roman realgeschichtliche Hintergründe. „Joseph wird zum Amerikaner stilisiert“, schreibt Borchmeyer, denn der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, von dessen Nettigkeit sich Mann bei seinen Besuchen im Weißen Haus überzeugen konnte, wird immer mehr zum Vorbild für die Gestalt des Josephs. Er selbst wird im Roman ein mächtiger Minister in einem heidnischen Staatswesen und ist somit ein „Abgesonderter“ seines Stammes und der Heilsgeschichte. Was Joseph und Roosevelt gemeinsam haben, ist ihre Vermittlerfigur, die für Mann in der Gestalt des Hermes greifbar wird. Mann schrieb 1945 über Roosevelt: „Er war der geborene Mittler überhaupt, eine Hermesnatur, das heißt ein Politiker großen Stils.“
Mischung von Christentum und Mythos
Borchmeyer hebt aber auch die eigentümliche Mischung von Christentum und Mythos beim späten Thomas Mann hervor. Der Roman selbst sei schon eine Rückkehr zum Mythos, wie Mann das bei Balzac, Dickens oder Joyce gespürt habe: „Vom Mythos kommend und zurückkehrend zum Mythos: die gesamte oder fast die gesamte Geschichte der europäischen Literatur spannt sich zwischen Homer und Tolstoij“ stellte Mann fest. Autoren wie Kerényi, Broch, Eliade oder Döblin bestärken ihn in dieser Sicht. Mythos bedeutet in Manns Wendung vom Bürgerlichen zum Mythischen „Mythus ist Lebensgründung“, womit er die Gründung von „Liebe, des Hasses und des Mordes“ unter anderen meint. Trotz dieser mythischen Ideen bleibt er aber doch der Persönlichkeitsidee – neben dem Christentum – der Aufklärung verpflichtet, was auch mit der kritischen Intention des Romans übereinstimmt.
Die enge Verflechtung von Kunst und Wirklichkeit sieht Borchmeyer auch schon im Frühwerk Manns, als sich Mann mit dem Zeitphänomen des Dilettantismus und dem Lebenskult auseinandersetzte.
Dilettantismus machte schon Goethe im „Werther“ zum Thema, wo Werther durch seine Gefühle nie zur fasslichen Gestalt wird. Borchmeyer: „Er reagiert auf die Welt mit der Passivität des bloßen Gefühls, das nicht produktiv zu werden vermag.“ Werthers Lebenskatastrophe ist das direkte Ergebnis dieses Dilettantismus. Auch Nietzsche und Hugo von Hoffmannsthal haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt, beim „Bajazzo“ von Thomas Mann wird dann ein vollständiges Psychogramm des Dilettanten erstellt. Rückschauend wird Mann erklären, das Interesse am Pathologischen sei typisch gewesen für die Generation um die Jahrhundertwende, wenn es immer wieder um Nerven und Phantasien ging. Die Formel vom genialen Dilettantismus wurde Mann dann noch zum Verhängnis, als er das Gesamtkunstwerk Richard Wagners kritisierte, dass nur Dilettantisch sein könne, woraufhin ihn die Münchener Wagnergemeinde das Leben in Deutschland zusätzlich zum aufkommenden Nationalsozialismus unmöglich machte.
Die frühen Erzählungen machten den Auftakt zu den „Buddenbrooks“ und zu den weiteren großen Romanen wie dem „Zauberberg“ und „Doktor Faustus“. In der glänzenden Analyse von Dieter Borchmeyer wird Thomas Mann als politischer Autor deutlich in seiner Verortung der geistigen Situation seiner Zeit.
Dieter Borchmeyer: Thomas Mann. Werk und Zeit. Insel Verlag 2022, 1546 Seiten, ISBN 978-3-458-64341-8, EUR 58,–
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