Man kennt es von den Komödien William Shakespeares, Johann Nestroys oder Oscar Wildes: die Ordnung scheint aus den Fugen zu sein, solange die vom Autor als Paar angelegten Figuren sich nicht gefunden oder versöhnt haben – doch selbst dann kann am Ende der Handlung noch eine fundamentale Überraschung warten. Die Welt hat sich gewandelt, und alles, was nicht wirklich tief miteinander verbunden war, fällt auseinander. Diesem bewährten dramaturgischen Muster der (Neu)-Ordnung folgt auch Martin Mosebach in seinem aktuellen Roman „Taube und Wildente“, der an zwei Orten spielt: in einem Landhaus („La Chaumière“) am Fuße des von Cézanne malerisch festgehaltenen Sainte-Victoire Gebirges, wo das Ehepaar Ruprecht und Marjorie Dalandt jährlich die Sommerferien verbringt und in einer deutschen Großstadt, von wo aus Ruprecht Dalandt den prestigeträchtigen Nischenverlag „Papyros Press“ leitet.
Erhabenheit voller Abgründe und Frustrationen
Soweit so gut, könnte man annehmen – doch hinter den Fassaden des weltläufigen Wohlstands und der intellektuellen Erhabenheit des Paares und der locations lauern Abgründe und Frustrationen. Marjorie, die das Haus zusammen mit ihrer Schwester von ihrem Vater geerbt hat und bemüht ist, das komplexe – nicht nur juristische – Regelwerk der Hinterlassenschaft kulturell penibel zu befolgen, gönnt sich in Lady Chatterley-Manier eine Affäre mit dem englischen Verwalter des Grundstücks.
Ruprecht hingegen, der unter dem Altwerden leidet und bei aller Kunstsinnigkeit eine Demenz fürchtet, erinnert sich permanent an einen erotischen Vorfall mit einer jungen Frau, der sich vor einigen Jahren abgespielt hat: „Eine weiche Linie von der einen Schulter bis zur schlanken Hüfte und zum Becken, bräunliche Haut, jung und samtig, ein unterdrückter Schmerzenslaut, ein Heben des Kopfes mit tiefschwarzem Haar, aber nicht hin zu ihm, eine fast noch kindliche Hand, die einen Speicheltropfen von den Lippen nimmt, einen Faden bildet sich dabei, und dann hinauswandert, um sich damit einzusalben, während das Gesicht mit verlorenem Profil wie nachdenklich vor sich hin blickt, die überraschende Erfahrenheit dieser Geste, die Unterwerfung unter seine Wollust, als wäre sie darin unterwiesen worden – …“.
Wendepunkt nach innen
Handelt es sich bei dieser Geliebten um Ruprechts Stieftochter Paula, die Marjorie in erster unglücklicher Ehe zur Welt brachte und die inzwischen selbst Mutter eines kompliziert-genialen Töchterchens namens Nike ist? Für derartig ausgefeilte erotische Künste ist in der „Vernunftehe“ zwischen Ruprecht und Marjorie jedenfalls kein Raum vorhanden. Man lebt kameradschaftlich mit- und nebeneinander; das Terrain des anderen mit Respekt und Abstand beäugend.
So ist es ein echter Wendepunkt, dass Ruprecht mit einem Mal eine Leidenschaft für das Stillleben „Tote Feldtaube und Wildente“ des Malers Otto Scholderer (1834–1902) entwickelt, das nicht nur zum Inventar des Landhauses in der Provence zählt, sondern eindeutig auch zu Marjories „Bereich“. Dadurch aber, dass Ruprecht plötzlich in „das Innere des Bildes“ zu gehen vermag, verwandelt es sich vom „Fremdkörper“ zum „Meisterwerk“ und sogar zum „Ausnahmewerk“, das nicht nur eine Form von kniefälliger Verehrung verdient, sondern Ruprechts Besitz verlangt. 60 000 Euro ist es ihm wert; eine im Kontext des Romans geradezu magische Zahl, an die verschiedene Handlungsstränge gebunden sind.
In Gedanken bei dunklen Mächten
Der Grund für die spontan auftretende, geradezu epiphanische Verehrung der altmodischen Tier-Kadaver-Darstellung wird im Roman neben geistreichen Reflexionen über Körper, Kunst und Kitsch, Tod und Schönheitdezent angedeutet: „Die Tiere waren tot, und doch gingen Kraft und Leben von ihnen aus.“
Genau darum geht es Ruprecht Dalandt, der mit dem Erwerb des Bildes nicht nur einen ästhetischen Genuss verbindet; er erhofft sich einen existenziellen Schritt nach vorn, in die Freiheit, die erotische Erfüllung und Anknüpfung, wenn man so will – und dabei darf, obwohl er sich nicht für religiös hält und Begriffe wie Schuld oder Reue in seinem Leben ausdrücklich keine Rolle spielen, auch das „Schicksal“ nicht fehlen: „Ruprecht fand Gelegenheit, sich in Gedanken den dunklen Mächten zuzuwenden, die sein Schicksal lenkten: Wieder einmal sorgten sie dafür, dass ein Übergang in seinem Leben gleitend geschah – …“.
Erotische Hoffnungen versanden
Was nicht heißt, dass Ruprecht Dalandt, der mit Paula und Nike allein nach Deutschland zurückreist, dort den Himmel auf Erden findet. Psychologisch einfühlsam und literarisch präzise schildert Mosebach, wie die erotischen Hoffnungen Dalandts an den Klippen der Realität nicht unbedingt zerschellen, aber allmählich doch versanden. Man ist – frei nach Mallarmé und Debussy, die mitsamt Vaslav Nijinskys „L'après-midi d'un faune“-Ballett im Roman als poetisch-musikalische Motivgeber hervorklingen – auch als menschlicher Faun nicht immer 33 Jahre alt. Höchstens vielleicht in der Ewigkeit.
Ähnlich ernüchternd sind auch die Erfahrungen Marjories, die zunächst in Frankreich bleibt. So sehr steht sie im Bann von Leidenschaft und (eingebildeter) Liebe, dass die Rituale, welche das Haus in Frankreich all die Jahre schmückten und trugen, außer Kraft treten. Die Folgen sind verhängnisvoll: „Es dauerte nur eine Woche, bis in den Wohnräumen überall etwas herumlag, benutzte Gläser stehenblieben, der Eisschrank geleert, die Aschenbecher voll waren und alte Weinflaschen auf dem Boden standen ...
Umfassender kulinarischer Lobpreis
Eben noch hatten die Räume eine gewisse Sterilität ausgestrahlt, wie sie es zeit ihres Lebens getan hatten. Als sie eines Morgens hinunterkam, musste sie feststellen, es roch nicht mehr gut im Haus.“ Liest man zu viel in diese Haus-Beschreibungen des traditionsbewussten Katholiken Martin Mosebach hinein, wenn man darin eine Metapher für die Kirche sieht, die ohne die Einhaltung strenger Riten und Gesetze ebenfalls dem Verfall überlassen sein könnte?
In punkto Sinnenfreude herrscht in „Taube und Wildente“ jedenfalls kein Mangel. Neben erotischen und ästhetischen Genüssen, bei denen auch andere Paare in Nebenrollen miteinbezogen sind, stimmt der Erzähler, wie schon in früheren Werken, einen umfassenden kulinarischen Lobpreis an. Nichts ist hier dem dramaturgischen Zufall überlassen. Beeindruckend sind auch die genauen Naturbeschreibungen, die stets die Seelenzustände der Protagonisten widerspiegeln. Ebenso wie Träume und Tierskizzen. Die flirrende Hitze der Provence, aber auch die monochrome Tristesse einer deutschen Großstadt – bei Martin Mosebach werden sie Ereignis.
Alchemie des Zufalls
Am Ende des Romans haben die Dalandts und die anderen Paare des Romans ihren Platz in der Welt neu gefunden. Auch der Verlag hat sich gewandelt – ein ironisches Augenzwinkern des Schriftstellers in Richtung Literaturbetrieb. Die Alchemie des Zufalls wirkt nicht nur zwischen Mann und Frau und in der Finanzwelt.
Martin Mosebach legt nach dem genialen Roman „Krass“ (2020) mit „Taube und Wildente“ einen wunderbar metaphysischen Ehe- und Familienroman vor: Tiefsinnig, realistisch und berührend. Seine Lehre der Sainte-Victoire kann Augen öffnen für Licht und Schatten.
Martin Mosebach: Taube und Wildente. Dtv, 2022, 333 Seiten, ISBN 978-3-423-28000-6, EUR 24,–
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