Das christliche Menschenbild ist als Thema in der Öffentlichkeit stets gegenwärtig. Die christliche Soziallehre nimmt es als Fundament. Politische Parteien beanspruchen es für ihre Programmatik. Die Wissenschaften beschreiben seinen prägenden Einfluss auf Kultur und Gesellschaft nicht nur in Europa. Was aber charakterisiert es und unterscheidet es von anderen Menschenbildern? Diesen Fragen hat sich Professor Rémi Brague gewidmet – Philosoph und Religionswissenschaftler, unter anderem Emeritus der Universität Panthéon-Sorbonne und von 2002 bis 2012 Inhaber des Guardini-Lehrstuhls an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Dem Humanismus auf der Spur
Brague untersucht das Thema systematisch. Er stellt es in den Zusammenhang mit dem sich wandelnden Verständnis dessen, was gemeinhin als Humanismus bezeichnet wird. Das entwickelt sich etappenweise, von der wertfreien Beschreibung des Menschen im Reigen der Lebewesen, über seine Bewertung als besser und würdiger als alle anderen, seine Überlegenheit als Herren und Eigentümer der Natur wie bei Descartes bis hin zum Menschen als oberstem Wesen schlechthin beim atheistischen Humanismus seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Doch das, so Brague, führt in eine Sackgasse. Wenn man den Menschen als letzten, nicht mehr hinterfragbaren Bezugspunkt nimmt, muss man eine stabile Vorstellung davon haben, was der Mensch ist. Es bedarf also einer Anthropologie, die erforscht, was den Menschen ausmacht.
„Jeder Mensch ist ein unauslotbarer Abgrund.“
Sie hat erste Anfänge im 16. Jahrhundert und wird ab dem 18. Jahrhundert zu einer philosophischen Kernfrage, analog zu den Etappen des Humanismusbegriffs. Doch sie stößt auf die Tücke des Objekts. Je mehr sie erforscht, desto komplexere Eigenschaften treten hervor. Brague zitiert Dante Alighieri, dass der Mensch unter den Lebewesen äußerst unstet und veränderlich sei. Es gibt keinen Idealtyp, der allgemein gültige Feststellungen über den Menschen erlaubt. Und auch die Individuen erscheinen unerforschlich. Brague zitiert Augustinus: Jeder Mensch ist ein unauslotbarer Abgrund. Das verdeutlicht er mit Ironie: „Seit fünfzig Jahren kenne ich meine Frau nicht.“
Diesem Dilemma der Anthropologie versuchen die Existenzialisten dadurch zu entkommen, dass der Mensch sich in totaler Freiheit selbst erfinden muss. Doch das führt in das nächste Dilemma. Denn diese Freiheit ist gegenüber der Alternative Selbstaufbau oder Selbstabbau bis zum Suizid vollkommen neutral. Das ist der Kontrasthintergrund für das christliche Menschenbild. Am Anfang steht die biblische Botschaft, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf. Daraus erklärt sich die Unerforschlichkeit des Menschen. Denn wenn Gott unerforschlich ist, ist es auch der Mensch. Wie aber kann man dann zu einem christlichen Menschenbild kommen? Brague plädiert für eine „exzentrische Anthropologie“.
Mit Christus wird der Mensch verständlich
Damit meint er, dass es einen Bezugspunkt außerhalb des Menschen braucht, um einen Blick darauf zu gewinnen, wer er ist und wohin sein Weg führt. Der Bezugspunkt des Christentums ist Christus, in dem sich der Schöpfer als konkrete menschliche Person offenbart hat. Christliche Anthropologie ist im Grunde die Lehre von Christus.
Durch ihn bekommen wir eine Ahnung, wie ein vollendeter Mensch aussehen wird. Und einen Maßstab, welche seiner ambivalenten Eigenschaften und Handlungsweisen sich dem annähern und wenigstens stückweise entsprechen können. Das Christentum radikalisiert diesen Ansatz bis zum Äußersten. Der Mensch, der in dieser Welt lebt, muss sterben und wiedererstehen. Erst dann wird er vollkommen.
Brague beschreibt die Vorzüge dieses Menschenbildes. Es verleiht der Existenz des Menschen ein Ziel, das über diese Welt hinausweist, einer Existenz, die damit keinesfalls entwertet, sondern im Gegenteil lohnend wird, ja ein „Ernstnehmen der menschlichen Wirklichkeit ist“. Das lässt uns die Einmaligkeit jeder einzelnen Person erkennen. Brague nennt die „singuläre Universalität des Christentums“, die die gleiche Achtung für jeden Einzelnen, unabhängig von allen individuellen Unterschieden begründet. Erst aus dieser Perspektive kann dem Menschen ein Leben in dieser Welt gelingen, das ihn als Geschöpf nach Gottes Ebenbild erahnen lässt.
Der Mensch darf sich nicht zum eigenen Maßstab machen
Brague beschreibt aber auch klar die Konsequenzen, wenn der Mensch nur auf sich selbst blickt und nur sich selbst zum Maßstab seines Denkens und Handelns macht. Dann sieht er ein unvollkommenes Individuum, das er maßlos idealisiert oder ein willkürliches Konstrukt, an dem die Menschen sich auszurichten haben – mit oft mörderischen Folgen. An dieser Stelle wird Brague immer wieder deutlich. So nennt er das Beispiel des britischen Chemikers John Desmond Bernal, der 1929 daran dachte, den Menschen biotechnologisch zu verbessern. Das müsse dazu führen, dass die so vervollkommneten Menschen die Zahl der rückständig gebliebenen reduzieren.
Bernal, Mitglied der britischen Kommunistischen Partei, berichtet Brague, erhielt 1953 den Stalin-Preis aus der Hand des Namensgebers, eines Mannes, „der sich für die Verringerung der Anzahl unerwünschter Menschen als besonders zuständig erwiesen hat“. Rémi Bragues Buch hat in der Reihe „Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft“ des Herausgebers Christoph Böhr einen zentralen Platz. Eine philosophische und religionswissenschaftliche Pflichtlektüre.
Rémi Brague: Zum christlichen Menschenbild. Verlag Springer VS, Wiesbaden 2021 erschienen in der Reihe „Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft“, hrsg. von Christoph Böhr. 186 Seiten, EUR 59,90.
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