Der 14. Juli 1902 war ein traumatischer Tag für Venedig. An einem Montagmorgen, kurz vor 10 Uhr, bildeten sich Risse im Campanile von San Marco. Der Glockenturm verlor Ziegel, die auf den Markusplatz niederstürzten. Wenige Minuten später kollabierte das berühmte Wahrzeichen der Serenissima. Vom rund 100 Meter hohen "paron de casa", dem Hausherrn der Lagunenstadt, blieb nur ein gewaltiger Schutthügel auf dem Markusplatz übrig. Ursache für den Einsturz: Reparatur- und Renovierungsarbeiten in den Tagen zuvor.
Das Desaster erschütterte die gesamte abendländische Kulturwelt. Die Avantgarde dagegen erkannte im Einsturz eine Chance. Lichtete der Zusammenbruch nicht die Piazza und machte sie damit luftiger? "Ein Einsturz, aber ein historischer – und wer wollte die Geschichte korrigieren?", fragte der französische Dramatiker Marcel Prévost. Der Jugendstilarchitekt Otto Wagner ging weiter. Ein Wiederaufbau sei eine Geschichtsverfälschung, das morbide Venedig keine Handelsmacht mehr. Überdies sei man nicht in der Lage, den künstlerischen und historischen Wert wiederherzustellen. Unausgesprochen herrschte die Auffassung, eine moderne, zeitgenössische Version des Campanile auf dem Markusplatz zu errichten.
In den Debatten wiederholt sich Geschichte
Ideen, die für die Venezianer an Blasphemie grenzten. Noch am Abend des Einsturzes verkündete der Stadtrat, den Campanile wiederaufzubauen. Das Motto "com’era, dov’era" (Wie er war, wo er war) dominierte nicht nur die architektonische und politische Umsetzung des Wiederaufbaus, sondern drückte auch das Gefühl der Stadtbevölkerung aus. Die Revue des Deux Mondes sprach 1912 von einer "Obsession", dass der Turm wieder genau das Aussehen haben sollte, wie er den Bewohnern in Erinnerung geblieben war. Für sie hatte der Einsturz den Markusplatz "verstümmelt". Den Vorschlag, dass der Campanile anders oder gar nicht gebaut werden würde, beantwortete ein Venezianer so: "Können Sie sich vorstellen, dass die Mezza Terza nicht mehr zur Morgendämmerung schlägt, wenn sich die Türen von San Marco öffnen?" Am 25. April 1912 wurde der neue Turm eingeweiht. Die geliebten Glocken finanzierte Papst Pius X., der im Einsturzjahr Patriarch von Venedig gewesen war.
Die Debatte um den Campanile von San Marco mutet überraschend modern an. Ihren Wiedergänger fand sie nach dem Brand der Notre-Dame in Paris. Die bloße Rekonstruktion weckt gestern wie heute Empörung bei der kulturellen Avantgarde. Beruhte die damalige Kritik vor allem auf einem Zeitgeist, der in der Abgrenzung zum Historismus eine Nachahmung historischer Architektur kategorisch von sich wies der Beginn des 20. Jahrhunderts suchte nach einer neuen Formensprache so entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine prinzipielle Abneigung zu allen Bauformen, die nicht die Ansprüche von Funktionalität und Modernität erfüllten. Dass die Moderne zum architektonischen Selbstwert wurde, verdeutlichen Länder wie Schweden oder die Schweiz, die trotz Kriegsverschonung ihre Innenstädte um zweifelhafte Bauten erweiterten; und selbst in kriegsgebeutelten Staaten schlug die Nachkriegsarchitektur bedeutende Narben. Hannover brach in der Nachkriegszeit seine Flusswasserkunst ab, Bonn zerstörte seinen Bahnhofsvorplatz zugunsten eines Schandflecks, der als "Bonner Loch" jahrzehntelang als sozialer Brennpunkt galt.
„Die Berliner Republik gefällt sich im Kleid einer Baukunst,
die vermeintlich "demokratische Werte" versinnbildlichen soll,
und dafür bereit ist, jeden ästhetischen Wert zu opfern“
Mit dem Einzug der Moderne in die Architektur begann deren Ideologisierung. Um Missverständnissen vorzubeugen: das barocke Versailles wie der gotische Dogenpalast stehen für die Selbstzelebrierung einer Staatsidee. Die Regeln, auf denen vormoderne Bauten standen, entsprangen jedoch keiner ideologischen Doktrin, sondern den Prinzipien der Ästhetik. Sie galten für Vitruv wie Palladio. Schönheit war ein Eigenwert, dem sich die Architektur beugen musste. Als Berlin nach der Wiedervereinigung zum Schaufenster der Republik werden sollte, bestimmte hingegen die Botschaft die Formensprache; der weitreichende Gebrauch von Glas sollte Transparenz verdeutlichen, die karge Einrichtung Bescheidenheit und Funktionalität. Dem Diktum musste sich selbst der Reichstag als angeblicher Kontinuitätspunkt deutscher Geschichte beugen – sinnigerweise behielt der modernisierte Bau nur seine Fassade. Die Berliner Republik gefällt sich im Kleid einer Baukunst, die vermeintlich "demokratische Werte" versinnbildlichen soll, und dafür bereit ist, jeden ästhetischen Wert zu opfern. Das von Giovannino Guareschi geäußerte Bonmot, dass nichts so hochmütig sei, wie offen zur Schau gestellte Demut und Schlichtheit, ist an der Spree unbekannt.
Diese Interpretation von Architektur ist der Schlüssel zum Verständnis aktueller Diskussionen. Der zeitgenössische Geist erkennt weder vergangene Persönlichkeiten, noch deren Werk, noch die Vergangenheit als Eigenwert an, sondern macht sich selbst zum Maß aller Dinge; demnach muss auch der historische Bau nicht nach seinem ästhetischen Wert, sondern nach den Umständen seines Entstehens, nach seiner Epoche und dem damaligen politischen System bewertet werden. Das Renaissanceschloss wird zum Symbol fürstlichen Verprassens und Unterdrückung des gemeinen Volkes, das klassizistische Museum des 19. Jahrhunderts zur Aufbewahrungsstätte kolonialen und imperialistischen Raubes. Ein Kulminationspunkt solcher Deutung war 2018 die Einschätzung des Architekten Stephan Trüby, der die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt als "unterkomplexes Heile-Welt-Gebaue, das den Holocaust herunterstuft" bewertete.
Fehlen Argumente, wird die „Nazikeule“ bemüht
Kurzerhand machte das Schlagwort die Runde, dass Fachwerk faschistisch sei und wer konnte schon ein Interesse daran haben, dass mittelalterliche und frühneuzeitliche Fassaden restauriert wurden, wenn nicht ewiggestrige Nazis, die Adolf Hitler vergessen machen wollten? Der moderne Bau ist nicht nur bloße Abkoppelung von der Vergangenheit, um nicht mehr an diese erinnert zu werden; er ist zugleich Bote einer Zeit, die es besser macht, ohne den Ballast dunkler Kapitel, strahlend auf die Zukunft ausgerichtet. Dass sich diese Ideologie sowohl in der entmenschlichten Architektur von Le Corbusier wiederfindet der mit dem Gedanken spielte, die Pariser Innenstadt zugunsten von mehreren massiven, dystopischen Wohntürmen zu zerstampfen – als auch dem Programm jener Massenideologien entspricht, die mit totalitären Stadtprojekten organisch gewachsene Straßenzüge vernichteten, ist das bestgehütete Geheimnis moderner Bauherren, die mit ihren brutalistischen Zweckbauten eher eine Kontinuität denn einen Bruch mit den 20er, 30er und 40er Jahren darstellen.
Die historische Rekonstruktion ist unbequem, weil sie daran erinnert, was dem Zeitgeist ungemütlich ist. Dass der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses als Wiedererstarken des Preußentums gedeutet wurde – geschenkt. Dass die Installation des Kreuzes auf der Kuppel für einen Skandal sorgte – absehbar. Eine "gute" Rekonstruktion kann es per definitionem nicht geben. Selbst Zugeständnisse wie eine modernistische Schlossfassade oder ein entkerntes Innenleben mögen nicht versöhnen. In einem larmoyanten "Zeit"-Artikel klagte Dirk Peitz über das Bauwerk: "Wo kriege ich mein Geld zurück? Wer denkt sich denn so etwas aus? Lässt so etwas bauen? Wen kann man dafür sofort persönlich verantwortlich machen?" Für die gegenwärtige Feuilleton-Redaktion ist das gutgemeinte Humboldt-Forum kein Köder in Richtung Weltoffenheit, sondern letztlich eine düstere Erinnerung an belastetes koloniales Erbe. Das Stadtschloss ist insofern aus beiderlei Sicht misslungen: Progressive beklagen, man hätte etwas "Neues" an historischer Stelle versuchen können – offensichtlich ist Berlins Hunger nach hässlicher bundesrepublikanischer Bekenntnisarchitektur immer noch nicht gestillt – während Traditionalisten die Fassade am Spreeufer und das kalte Innenleben kritisieren.
Es gibt mehr als „Nationalismus“ in der Geschichte der Nationen
So verwundert auch nicht die Reserviertheit gegenüber dem Wiederaufbau des Sächsischen Palais in Warschau. Ihm kann nur eine rückwärtsgewandte Geschichtsauffassung zugrunde liegen, die sich nach Nationalismus und Größe sehnt. Dass es europäische Länder gibt, die nicht ihre jüngere, sondern ihre ältere Vergangenheit als Bezugspunkt sehen, bleibt unverständlich. Dabei könnte gerade Deutschland, das an der Zerstörung dieses Bezugspunkts polnischer Geschichte direkt beteiligt war, über den Wiederaufbau ein Zeichen der Versöhnung setzen – nicht zuletzt, weil der Name des Hauses aus der Zeit rührt, als deutsche Könige ganz selbstverständlich auf dem polnischen Thron saßen. Solche Symbole bleiben jedoch denjenigen fremd, die sich selbst in den glücklichsten aller Zeiten wähnen, statt in einem Kontinuum sich abwechselnder Epochen in den vielfachen Schattierungen von Grau.
Der Geist eines Raumes, die unbezahlbaren Artefakte und die Atmosphäre bedeutungsschwangerer historischer Gerüche innerhalb des Palais können nicht wiederhergestellt werden. Die Zimmer, in denen August III. wandelte, in denen Chopins Vater Französisch lehrte und in dem der Generalstab der polnischen Armee residierte, sind unwiederbringlich verloren. Anders als Berlin oder Frankfurt, wo die Wiedererrichtung der Fassade ohne Geist Programm war – der Nutzen des Stadtschlosses blieb von Anfang an unbestimmt, das Frankfurter Fachwerk ist nicht davor gefeit, dass dort Handyläden oder Discounter einziehen – haben die Polen von Anfang an Sinn und Zweck des wiederaufgebauten Palais festgelegt: als Sitz des polnischen Senats. Das hieße, einem Glockenturm seine Glocken zu weihen, statt sich mit einer toten Fassade zu begnügen – und den Räumen Geist einzuhauchen. In diesem Sinne: Wie er war, wo er war.
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