Wo früher das Kreuz hing, hängt jetzt das Rauchverbot. So fasst der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann es zusammen. Wir erleben in diesen Wochen eine interessante Abfolge gesellschaftlicher Ereignisse, die etwas mit öffentlichen Zeichen zu tun haben. Annalena Baerbock (oder war es doch nicht auf ihr eigenes Geheiß?) lässt ein Kreuz abhängen, das in einem politischen Meeting verstören könnte. Claudia Roth empfindet Bibelstellen am Berliner Stadtschloss als problematisch. Junge Vertreter der „letzten Generation“ kleben sich an Kunstwerke oder überschütten diese mit Suppe, um auf die Gefahr des Klimawandels hinzuweisen.
„Dass Plakatwerbung in Deutschland das Kopftuch zunehmend normalisiert,
für dessen Ablegen Frauen im Iran aber ins Gefängnis zu gehen bereit sind,
gibt zu denken“
Wer die Aktion verteidigt, verweist nicht selten darauf, dass an den Kunstwerken selbst kein Schaden entstanden sei. Tatsächlich: bei besagter Aktion wurde das Gemälde selbst nicht beschädigt. Doch im Raum der Zeichen zählt nicht nur das Materielle. Indem Frauen im Iran das Kopftuch abnehmen, tun sie mehr, als sich eines Stücks Stoff entledigen. Wer eine Flagge oder Bücher öffentlich verbrennt, vollzieht einen kategorisch anderen Akt als nur die Vernichtung eines Gegenstandes.
Wer eine Flagge hisst, bekennt sich zu etwas. Die ukrainischen Farben wehen nun auf der ganzen Welt und signalisieren die Verurteilung des russischen Angriffskriegs. Bei Symbolen geht es also nie nur um Nebensächliches. So ist es tatsächlich ein direktes und höchst sprechendes Statement, wenn führende Politikerinnen christliche Symbole aus der politischen Öffentlichkeit tilgen wollen. Es ist ein überaus wirkmächtiges Zeichen, wenn Aktivisten sich an Kunstwerke kleben oder diese beschmutzen. Denn in dem, was eine Kultur als Kunstgüter erachtet, manifestieren sich ihre zentralen Werte.
Mit Füßen treten, was andern heilig ist
Egal, ob man das Anliegen der „letzten Generation“ als berechtigt ansieht: es ist typisches Kennzeichen totalitärer und fanatischer Ideologien, für das Erreichen ihrer Ziele auf nichts Rücksicht zu nehmen und das, was anderen heilig ist, mit Füßen zu treten. Denn wir leben in einem Raum der Zeichen. Dass Christen im Irak voller Freude feiern, wenn nach der IS-Herrschaft endlich wieder ein Kreuz auf ihrer Kirche stehen darf, steht in eigenartigem Kontrast zu mancher gegenläufiger Entwicklung bei uns.
Dass Plakatwerbung in Deutschland das Kopftuch zunehmend normalisiert, für dessen Ablegen Frauen im Iran aber ins Gefängnis zu gehen bereit sind, gibt zu denken. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es einen Pride-Month gibt, in dem die Innenstädte Europas regenbogenfarben beflaggt sind. Es gibt also heute wie zu jeder Zeit Zeichen, die ganz bewusst gefördert und in die Öffentlichkeit geschoben werden.
Zeichen der Zeit sagen etwas über ihr jeweiliges Menschenbild
Und solche, die von manchen lieber getilgt würden oder die man im Namen von etwas anderem „Guten“ durchaus einmal vom Sockel stürzen oder zumindest in Klammern setzen darf. Daran ist nichts neu, Menschen taten das schon immer. Fest steht nur: wir leben in einem Raum der Zeichen und dieser ist nie ganz neutral. Welche Zeichen die zentralsten in einer Kultur und Epoche sind, das sagt Elementares darüber aus, wie diese Epoche über die Welt und den Menschen denkt.
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