Manfred ist 62 und ich 56 Jahre alt, wir sind seit 31 Jahren verheiratet und haben vier Kinder im Alter von 29, 27, 25 und 23 Jahren. Unsere jüngste Tochter heißt Rafaela und ist eine junge Frau mit Down-Syndrom.
Rafaela besuchte den Regelkindergarten der Ortsgemeinde und anschließend eine Förderschule mit ganzheitlichem Schwerpunkt. Seit 2015 arbeitet sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Zurzeit ist sie in der Abteilung Verpackung und Montage tätig und fühlt sich dort sehr wohl. Das Leben mit ihr ist einerseits eine besondere Herausforderung, andererseits aber auch ein „Geschenk in einer besonderen Verpackung“. Diese Umschreibung haben wir einmal in einer Behindertenzeitschrift gelesen.
Dieses „Geschenk in einer besonderen Verpackung“ hat unseren Blick auf den Menschen und menschliches Leben stark verändert. Vieles, was vorher selbstverständlich erschien, wird plötzlich ein Geschenk. So erinnere ich mich an eine Situation auf dem Spielplatz. Rafaela war drei Jahre alt und konnte erst seit einigen Monaten laufen. Andere junge Mütter beklagten sich über ihre Kinder, die circa 18 Monate alt waren und nun laufen konnten und dadurch natürlich in der Wohnung für Unordnung sorgten. Ich konnte sie gut verstehen, weil es mir mit unseren drei älteren Kindern genauso ging. Rafaela lernte erst mit drei Jahren laufen und es war egal, ob sie alles ausräumte oder nicht. Ich war einfach nur dankbar, dass sie überhaupt jetzt laufen konnte.
Seit dieser Zeit war es für mich nicht mehr selbstverständlich, dass Kinder laufen, allein essen, sich allein anziehen können, sondern eher ein Wunder, das bis heute ein Staunen in mir hervorruft.
Obwohl Rafaela ein sonniges Gemüt hat, fit und aufgeschlossen ist, gab und gibt es viel Alltägliches, was mühsam eingeübt werden musste und muss. Die größten Herausforderungen dabei sind Geduld, das Abwarten und Loslassen können. In anderen Kulturkreisen werden Down-Menschen auch „unsere Langsamen“ genannt. Mahlzeiten, Körperpflege, Spaziergänge, Radtouren, Ausflüge… alles geht mit Rafaela langsamer. Vieles geht und vieles geht nicht. In unserer jetzigen Lebenssituation haben wir am meisten mit dem „Angebundensein“ zu kämpfen. Die erwachsenen Kinder sind aus dem Haus und wir spüren immer mehr, dass Rafaela uns bindet, und wir vieles, was Paare in der Lebensmitte wieder tun können, bei uns nicht möglich ist. Das Loslassen schmerzt oft sehr. Wir versuchen dann, es als positiv zu sehen, wenn wir einiges absagen „dürfen“ und die Ausbremsung als gewonnene Ruhe zu genießen.
Barmherzig mit sich selbst sein
So sind wir als Ehepaar immer wieder herausgefordert, Prioritäten konsequent zu setzen. Mitunter kann das auch richtig gut tun. Für unsere Ehe waren die damit verbundenen Konflikte oft eine große Herausforderung. Trotz allem haben wir uns immer wieder Zeit genommen, an Wochenenden für Ehepaare teilzunehmen, die von kirchlicher Seite angeboten wurden. Hier haben wir gelernt, immer wieder aufeinander zuzugehen, uns immer wieder bewusst zu machen, dass der Partner, die Partnerin auch sein Bestes tut.
In den vergangenen 23 Jahren sind wir sehr oft an unsere körperlichen und seelischen Grenzen gestoßen, besonders ich als Mutter. Gerade in den Situationen, in denen ich nicht mehr weiterwusste, habe ich oft eine Kerze angezündet und das Kreuz und das Bild der Gottesmutter angeschaut. Ich bin dann so lange sitzen geblieben, bis ich gespürt habe, dass Gott mich liebt, gerade jetzt in meiner Hilflosigkeit, in meiner Wut und Aggression, in meinem Unvermögen. Lange, lange Jahre war ich überzeugt davon, dass ich vor Gott nur bestehen kann, wenn ich alles richtig mache. Mittlerweile habe ich gelernt, viel barmherziger und liebevoller mit mir selbst umzugehen.
So hat das bisherige Leben mit Rafaela uns gelehrt, dass Gottes Liebe zu uns nichts mit Leistung und Können zu tun hat. Denn Rafaela kann die Leistungen, die allgemein erwartet werden, nicht erbringen und wird trotzdem von allen Familienmitgliedern innigst geliebt. Werte, Sicht- und Denkweisen haben sich bei uns verändert, das Hier und Jetzt hat mehr Bedeutung und Kleinigkeiten bleiben Kleinigkeiten.
Dadurch sehen wir auch unsere anderen erwachsenen Kinder und deren Partner mit anderen Augen. Nicht allein berufliche Leistungen zählen, sondern vielmehr der ganze Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen.
Rafaelas Art ist eine Bereicherung für unser Leben. Sie ist sehr direkt und sagt was sie denkt und fühlt. Dadurch ist sie total authentisch, was wir „gesunde“ Menschen allzu oft nicht sind. Wenn sie mich einfach so ohne Grund umarmt und sagt: „Mama ich hab Dich lieb, du bist die Beste“, dann macht mich diese einfache, schlichte Art sehr glücklich. Sie bringt uns oft mit ihren „coolen“ Sprüchen zum Lachen. Wer sie kennt, mag sie auch. Das geht gar nicht anders! Letztlich ist unser Glaube an Gott und unser Vertrauen auf ihn die Kraftquelle zum Weitermachen.
So vertrauen wir auch darauf, dass Rafaela hoffentlich in naher Zukunft einen guten Platz in einem Wohnheim finden wird und der Übergang vom Wohnen zuhause zum Wohnen im Wohnheim sich nicht allzu schwierig gestaltet. Ein Zitat beschreibt dies treffend: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Und übrigens: Rafael oder Rafaela heißt „Gott heilt“.
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