Zukunft des Kinos

„Perspektive Deutsches Kino“: Wohin geht der deutsche Film?

In der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ der heute beginnenden 73. Berlinale werden universelle, aber auch vom Zeitgeist beeinflusste Themen behandelt.
Perspektive Deutsches Kino
Foto: ewr | Als internationales Filmfestival bietet die Berlinale zwar einen Überblick über das weltweite Kinoschaffen. Es ist aber auch eine Art Schaufenster des deutschen Films.

Nach zwei wegen der einschränkenden „COVID-Maßnahmen“ atypischen Berlinale-Jahrgängen beginnt am 16. Februar mit den 73. Internationalen Filmfestspielen wieder eine Berlinale im üblichen Rahmen. „Die aktuellen behördlichen Vorgaben sehen keine spezifischen Hygienemaßnahmen vor“, heißt es auf der offiziellen Berlinale-Homepage. Das Festival endet am 26. Februar.

Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht der Wettbewerb, der als „das Herzstück der Berlinale und die Visitenkarte des Festivals“ von offizieller Seite bezeichnet wird. Mit etwa 20 Titeln pro Jahrgang biete er „einen detaillierten Einblick in die Gegenwart und die Zukunft des Kinos.“ Darüber wird „Die Tagespost“ nach Abschluss der Berlinale berichten. Insgesamt werden in den zehn Berlinale-Sektionen etwa 400 Filme vorgeführt.

„Eine unglaubliche Kraft“

Als internationales Filmfestival bietet die Berlinale zwar einen Überblick über das weltweite Kinoschaffen. Es ist aber auch eine Art Schaufenster des deutschen Films. Mit fünf von 19 Filmen ist die deutsche Beteiligung am offiziellen Wettbewerb dieses Jahr besonders hoch. Die Einbindung des deutschen Films in die Berlinale findet ihren Ausdruck insbesondere auch in der im Jahr 2002 eingeführten Sektion „Perspektive Deutsches Kino“, die dem „Nachwuchs des deutschen Films eine Möglichkeit zur Präsentation auf einem der wichtigsten Filmfestivals der Welt bietet“, so die Umschreibung durch die Berlinale. Dass darin erklärtermaßen in Deutschland produzierte Debüt- und Zweitfilme „mit universalen, internationalen Geschichten“ gezeigt werden, schlägt sich etwa darin nieder, dass von den zehn Filmen, die in der Sektion vorgeführt werden, vier außerhalb Deutschlands – in der Türkei, in Frankreich, im Iran und in Brasilien – angesiedelt sind.

Unabhängig vom Handlungsort können die Filme der diesjährigen „Perspektive Deutsches Kino“ zunächst einmal in zwei Kategorien grob eingeteilt werden: Dokumentarische Formen einerseits, Filme mit fiktiver oder fiktionaler Handlung andererseits. Den drei Dokumentarfilmen stehen sieben Spielfilme gegenüber.

Lesen Sie auch:

Der Eröffnungsfilm der Reihe ist ein klassischer Dokumentarfilm: In „Sieben Winter in Teheran“ erzählt Steffi Niederzoll von Reyhaneh Jabbari, die 2007 als 19-Jährige im Iran zum Tode verurteilt wurde. Anhand von Video- und Audioaufnahmen mit Mobiltelefonen werden die sieben Jahre rekonstruiert, die Reyhaneh bis zu ihrer Hinrichtung am 25.10.2014 im Gefängnis verbrachte. „Obwohl ihre technische Qualität manchmal gering ist oder sie verwackelt sind“, so Regisseurin Niederzoll, „war für mich von Anfang an klar, dass sie das Herzstück des Films sein müssen. Sie haben eine unglaubliche Kraft, geben uns Einblicke an Orten, die sonst verschlossen sind.“ Dazu kommen Interviews mit Reyhanehs Eltern und zwei Schwestern – die Mutter und die Schwestern leben inzwischen in Deutschland –, um den Fall neu aufzurollen.

Aus Originalaufnahmen und Interviews besteht ebenfalls „Vergiss Meyn Nicht“ von Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff. Steffen Meyn stürzte 2018 aus einem Baumhaus während der Proteste im Hambacher Forst, und verstarb noch am Unglücksort. Der Film basiert auf dem Material, das Meyn zwei Jahre lang mit einer 360°-Kamera drehte. Mit ihren typischen Verzerrungen sind Bilder aus einer solchen Kamera gewöhnungsbedürftig, vermitteln aber eine besondere Nähe.

Von den beiden, in der filmischen Form konventionellen Filmen hebt sich der Dokumentarfilm „Atomnomaden“ von Kilian Armando Friedrich und Tizian Stromp Zargari ab. Atomnomaden nennen sich selbst diejenigen, die für Subunternehmer in der französischen Atomindustrie Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten ausführen. Dies führt sie tausende Kilometer durch Frankreich. Unterwegs im Wohnmobil versuchen sie, das schnelle Geld zu machen, indem sie möglichst viele Aufträge an renovierungsbedürftigen Atomkraftwerken erhalten. Der Film schneidet die Wege von drei solchen Wohnmobilen zusammen. Herausragend sind vor allem die betörenden Bilder des Kameramanns Jacob Friedrich Maria Kohl, die ein visuelles Erzählen ermöglichen. Die Filmemacher begleiten junge Menschen – das Paar Marie-Lou und Florian, sowie Vincent und Jérôme –: „Sie alle träumen von dem Leben ,danach‘. Sie wollen in ein paar Jahren so viel verdienen, wie andere in zwanzig. Wir wollen zeigen, dass sie, obwohl sie sich an unterschiedlichen Orten befinden, miteinander verbunden sind.“

„Sexuelle Selbstbestimmung“ ist wieder ein Thema

Unter den Spielfilmen ragt „Geranien“ heraus, der zwar eine bekannte Handlung, aber auch ein solides Drehbuch besitzt und außerdem gut gespielt ist, vor allem von Hauptdarstellerin Friederike Becht. Sie verkörpert die Schauspielerin Nina, die mit Mann und Tochter in Amsterdam lebt, und nun in ihre kleine Heimatstadt im Ruhrgebiet zur Beerdigung ihrer Großmutter Marie zurückkehrt. Da der Termin der Beerdigung hinausgeschoben wird, verbringt sie mit ihrer entfremdeten Mutter Konnie (Marion Ottschick) soviel Zeit, wie lange nicht mehr. Regisseurin und Mit-Drehbuchautorin Tanja Egen: „Mit ,Geranien‘ wollte ich eine kleine, glaubwürdige Geschichte erzählen, die ohne das große Drama auskommt und doch subtil von den Schmerzen und Freuden zweier oder dreier Generationen von Frauen erzählt.“

Frauen stehen in zwei weiteren Spielfilmen der „Perspektive Deutsches Kino“ ebenfalls im Mittelpunkt: Engin Kundağs „Ararat“ handelt von der jungen Zeynep, die beschuldigt wird, in Berlin absichtlich einen Verkehrsunfall verursacht zu haben. Sie flieht deshalb zu ihrem Elternhaus in die türkische Provinz, die sich am Fuße des Berges Ararat befindet. Dort findet sie aber eine von Geheimnissen, Sprachlosigkeit und kalter Wut geprägte Atmosphäre. „Ararat“ zeichnet das Porträt einer schmerzhaften Beziehungsstörung auf unterschiedlichen privaten und gesellschaftlichen Ebenen, die sich in der Kargheit der Kommunikation ausdrückt.

Die 22-jährige Deutsch-Kurdin Elaha steht im gleichnamigen Spielfilm „Elaha“ von Milena Aboyan vor ihrer Hochzeit. Sie versucht mit allen Mitteln ihre bereits verlorene Jungfräulichkeit zu rekonstruieren. Dies könnte ein plastischer Chirurgie-Eingriff leisten, aber sie kann das dafür nötige Geld nicht aufbringen. Elaha beginnt aber gesellschaftliche Konventionen in Frage zu stellen. Wie in „Ararat“ steht auch in „Elaha“ die Frage der „sexuellen Selbstbestimmung“ im Vordergrund.

„Liebe von interkulturellen Erwartungen erschüttert“

Ähnlich zeitgeistorientiert nimmt sich der vierte der Langspielfilme der Reihe aus. „Knochen und Namen“ (Regie: Fabian Stumm) zeichnet das Leben eines gleichgeschlechtlichen Paares: Schauspieler Boris beginnt, Arbeit und Realität zu vermischen, Schriftsteller Jonathan verliert sich mehr und mehr in der Arbeit an einem neuen Roman. Homosexualität spielt auch eine entscheidende Rolle in einem der drei mittellangen Filmen aus der Reihe „Langer langer Kuss“ (Lukas Röder). So heißt es in der Inhaltsangabe: „Aaron verarbeitet eine Trennung und seitdem sein Exfreund Paul ihn verlassen hat, putzt sich Aaron nicht mehr die Zähne.“

Lesen Sie auch:

Mittellange, also etwa 30-minütige Filme, finden selten den Weg ins Kino. Sie werden aber immer häufiger in Festivals beziehungsweise im Rahmen eigener Wettbewerbe gezeigt. Sie sind eine bewährte „Fingerübung“ für Regisseure, ehe sie sich an einen abendfüllenden Langspielfilm heranwagen. Außer dem gerade erwähnten Film gehören zu der diesjährigen „Perspektive Deutsches Kino“ noch zwei weitere Spielfilme in Mittellänge: „Ash Wednesday“ spielt in einer Favela in Rio de Janeiro am letzten Karnevalstag, und wird als Musical inszeniert. In Sophia Mocorreas „Die Brautentführung“ steht die Hochzeit von der Argentinierin Luisa und dem Deutschen Fred kurz bevor: Die lieben Verwandten aus Argentinien treffen ein, Luisa muss die merkwürdige Tradition der Brautentführung über sich ergehen lassen. Zu ihrem Film führt die deutsch-argentinische Regisseurin aus: Ihr Film zeige „wie die Liebe von interkulturellen Erwartungen erschüttert werden kann, und wie Bräuche uns in Rollen zurückwerfen können, von denen wir uns längst befreit glaubten“.

Bei allen unterschiedlichen Formaten und Filmsprachen spielen in den Filme der diesjährigen „Perspektive“ einige Elemente eine Rolle, die vom Zeitgeist diktiert werden – einschließlich Rollen mit „People of Color“ in einigen von ihnen. Damit bildet die Berlinale zwar gesellschaftliche Debatten ab. Sie beeinflusst damit ebenfalls den gesellschaftlichen Diskurs.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
José García Die Tagespost Tizian

Weitere Artikel

Eine Rückkehr zu den Gaspreisen von 2019 wird es nicht geben: Wie sieht der Handlungsspielraum der Verbraucher aus?
20.03.2023, 15 Uhr
Marco Fetke
Die energie- und klimapolitische Debatte krankt daran, dass starken Bildern mehr Platz eingeräumt wird als intelligenten Konzepten. Dafür ist Lützerath das beste Beispiel.
13.01.2023, 11 Uhr
Jakob Ranke

Kirche

Das ZdK glaubt, in der Absage des Heiligen Stuhls zu Laientaufe und Laienpredigt ein Interesse Roms an Zielsetzungen des Synodalen Weges zu erkennen.
31.03.2023, 15 Uhr
Meldung
In der 23. Folge des „Katechismus-Podcasts“ der „Tagespost“ spricht Margarete Strauss von der Einheit zwischen Altem und Neuen Testament.
31.03.2023, 14 Uhr
Meldung
Der Vatikan schreibt erneut an den DBK-Vorsitzenden Bätzing und erteilt zentralen Synodalforderungen eine Absage. Der Sprecher der Bischöfe betont, im Gespräch bleiben zu wollen.
30.03.2023, 16 Uhr
Meldung