Kinoerfolge werden am Einspielergebnis und TV-Ausstrahlungen an ihren Quoten gemessen – was haben demnach von der Kritik hochgelobte Filme und Serien wie „Blade Runner 2049“ und „The Leftovers“ gemeinsam? Beide waren keine Kassen- beziehungsweise Quotenschlager. Was sie dennoch auszeichnet, ist ihr schöpferischer Eigenwert. Doch lohnen sich solche Produktionen für ein Studio? Künstlerischer Anspruch und Profitorientierung – wie geht das zusammen? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst einer anderen nachgehen: Was werten Streaming-Plattformen und Filmstudios heutzutage überhaupt als Erfolg?
Ein Gemischtwarenladen namens Amazon
Das Jahr 2012 war ein denkwürdiges Jahr für die westliche Medienlandschaft: Es war das Jahr, in dem sich der Unterhaltungskonzern Disney die Produktionsfirma des Star-Wars-Schöpfers George Lucas, Lucasfilm, für 4,05 Milliarden US-Dollar einverleibte. Das Animationsstudio Pixar gehörte dem Mauskonzern bereits – ebenso Marvel. Doch die Konkurrenz schlief nicht: Man beobachtete Disneys Shoppingtour genau – analysierte den Erfolg, den der Konzern mit „Star Wars“ und den „Avengers“ feierte. Es dauerte bis 2016, bis schließlich auch der US-amerikanische Telekommunikationskonzern AT&T aktiv wurde: Für 85 Milliarden Dollar kaufe der drittgrößte Mobilfunkanbieter in den USA den Medienriesen Warner.
AT&T ging es bis dahin primär um den Verkauf von Smartphones mit hauseigenem Mobilfunkvertrag und von Festnetz-Telefondiensten. Warum also kaufte man Warner? Die Strategie von AT&T bekam 2016 ein Gesicht: Damals wurde bekannt, dass die Holdinggesellschaft eine Streaming-Plattform plane, die 2022 schließlich unter dem Namen HBO Max an den Start ging. Man integrierte den Streamingdienst in zahlreiche AT&T-Mobilfunkverträge: Wer einen abschloss, konnte gratis HBO-Serien und Filme von Warner streamen. Das Ziel war es also, die Leute mit HBO-Serien und Warner-Filmen dazu zu bringen, Handyverträge abzuschließen.
Ähnlich wie es Amazon mit seiner Streaming-Plattform Prime Video bereits seit 2014 macht: Amazon will verkaufen, was sich eben verkaufen lässt. Egal was – Bücher, Möbel, Nahrung. Prime Video dagegen ist ein Prestigeprojekt: Ein Köder in Film- und Serienform, der potenzielle Kunden auf die Plattform locken und in Prime-Abonnenten verwandeln soll. Mit Apples Streamingdienst Apple TV + verhält es sich nicht anders. Und Amazon lässt sich dieses Lockmittel einiges kosten. Bestes Beispiel: Die im Herbst 2022 veröffentlichte „Der Herr der Ringe“-Serie „Die Ringe der Macht“, deren ersten Staffel allein 465 Millionen US-Dollar kostete. Und dazu noch die Rechte am Tolkien-Stoff – also die literarischen Anhänge von „Der Herr der Ringe“, „Der Herr der Ringe“ selbst und „Der Hobbit“ – für 250 Millionen US-Dollar.
Keine aussagekräftige Analyse
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie sich der Erfolg einer Serie bemessen lässt, die kaum schöpferischen Eigenwert besitzt, sondern von Beginn an auf seine Produkthaftigkeit reduziert wurde: Ein Produkt, das ein Vehikel ist, mit dem primären Zweck, den Konsumentenstrom auf die Verkaufsplattform amazon.de zu leiten. Vielleicht wäre es deshalb sinnvoller zu fragen: Ab wie vielen Prime-Abo-Abschlüssen lohnt sich für Amazon ein gigantomanisches Projekt wie „Die Ringe der Macht“? Doch weil der Konzern kaum Zahlen veröffentlicht, mit denen sich ein Erfolg von außen valide messen ließe, ist diese Frage nicht zu beantworten. Die einzige Zahl, die öffentlich ist: Angeblich schauten am Premierentag von „Die Ringe der Macht“ weltweit 25 Millionen Menschen zu – die PR-Abteilung von Amazon sprach von der „größten Premiere in der Geschichte von Prime Video“.
Für eine aussagekräftige Analyse lässt sich daher ein Umweg nicht vermeiden: Über das US-amerikanische Marktforschungsinstitut Nielsen zum Beispiel, wo man untersucht, wie viel Zeit Nutzer auf den Streaming-Plattformen verbringen – denn für jede Serie kann die Anzahl der geschauten Minuten errechnet werden. Nielsen greift laut eigenen Angaben auf einen repräsentativen Pool von US-Haushalten zurück und zählt die gestreamten Minuten: Ab dem Zeitpunkt, wo eine Serie länger als zwei Minuten geschaut wurde, tickt die Uhr.
Das Ergebnis bei „Die Ringe der Macht“ in den ersten fünf Monaten: 9,4 Milliarden Minuten. Das klingt zwar zunächst einmal nach sehr viel. Doch dies bedeutet, dass Amazons vermeintlich „größte Premiere“ nicht einmal in den Top 10 der meistgeschauten Serien 2022 gelandet ist. Auf den ersten zehn Plätzen lagen nämlich ausschließlich Netflix-Produktionen – zum Spitzenreiter mit 52 Milliarden geschauten Minuten avancierte die Mystery-Serie „Stranger Things“. „Die Ringe der Macht“ landeten hingegen ziemlich abgeschlagen auf Platz 15 – und das noch hinter einer weiteren Prime-Serie, der Comicverfilmung „The Boys“.
Streamingdienste spielen oft mit verdeckten Karten
Während hinter HBO Max und Prime Video also eine Holdinggesellschaft mit übergreifenden Interessen steht, die über das bloße Streaming-Geschäft hinausgehen, ist bei Netflix und Disney+ der Verkauf von Filmen und Serien zentral. Was beide außerdem verbindet? Die stark regulierte Öffentlichkeitsarbeit, die es erschwert, die Streaming-Dienste miteinander vergleichen zu können. Bei Netflix wissen oft nicht einmal die Produzenten, wie die eigenen Serien und Filme performt haben. Lediglich die Konzerne bestimmen, was an die Öffentlichkeit gelangt: Sie bestimmen, welche Zahlen die Investoren erreichen und können so selbst bestimmen, wann etwas ein Erfolg ist und wann nicht.
Treffend bewertete Dietrich von Behren, Strategic Advisor beim Streaming-Service Reelgood, diese Geheimniskrämerei: Es gehe den Netflix und Co. darum, „die eigene Erzählung zu kontrollieren“, erklärte er gegenüber der britischen Zeitung „The Observer“. Und in der Tat: Ein derart unantastbares Narrativ kann auf dem umkämpften Markt der Unterhaltungsindustrie die Verhandlungsposition gegenüber Investoren stärken: Eine Netflix-Aktie kostet derzeit rund 325 Euro und bei einem solch hohen Preis werden jegliche Interna auf die Vermeldungsgoldwaage gelegt. Die Strategie, sich bezüglich der Performance der eigenen Inhalte lieber bedeckt zu halten, ist also nachvollziehbar.
Die Einheiten, mit denen der Erfolg einer Serie oder eines Films gemessen werden kann, beschränken sich allerdings schon lange nicht mehr auf die Anzahl der Abos oder der geschauten Minuten. Interaktionen in den sozialen Medien wie TikTok oder Instagram haben heutzutage ähnlich viel Gewicht: Geht die Marketingstrategie auf, werden dort Millionen Menschen auf die Serie aufmerksam gemacht. Die Netflix-Serie „Wednesday“ zum Beispiel ging viral, als ein darin performter Tanz tausendfach von TikTok-Nutzern imitiert und von der Popsängerin Lady Gaga in ihrem Lied „Bloody Mary“ verwendet wurde. Innerhalb nur eines Monats lief die Serie laut Aussagen Netflix in 150 Millionen Haushalten weltweit.
Eine neue Prime-Strategie für Amazon?
Bei „Die Ringe der Macht“ hatte Amazon ein weniger glückliches Händchen. Ein Grund dafür ist die desaströse Marketingkampagne im Vorfeld. Amazon heuerte eine Handvoll Influencer an, die dafür bekannt waren, Videospiele zu spielen oder auf YouTube Klamotten zu bewerten. Von „Der Herr der Ringe“ hatten sie so wenig Ahnung wie Tolkien von TikTok. Und: Es ist offenkundig, dass Amazon zu keinem Zeitpunkt das Ziel verfolgte, mit „Die Ringe der Macht“ etwas von künstlerischem Wert zu schaffen – geschweige denn nah an Tolkiens Werk zu bleiben. Es ging von Anfang an darum, eine möglichst breite Masse zu erreichen, die nicht nur die Serie schaut, sondern zudem sich auf der Plattform gleich mit Tolkien-Büchern und anderem Mittelerde-Inhalten und -Merchandise eindeckt. Auch deshalb ist die Serie maximal generisch: Eine Strategie, die in einem miserablen Zuschauerrating auf den Bewertungsplattformen im Internet resultierte.
Die Frage ist, ob Amazon seine Prime-Strategie nun ändert. Denn die Probleme, die mit den zunehmend substanzlosen Inhalten einhergehen, sind branchenweit bekannt. Gut zu beobachten auch bei Disney+, wo massenhaft Marvel-Produktionen veröffentlicht werden, deren Erzählungen, Figuren und Ästhetik völlig austauschbar sind, keinerlei Alleinstellungsmerkmal haben und eher nach Computerspielen aussehen als nach Filmen. Die Folge ist eine Übersättigung des Publikums: Disney+ hat in den letzten drei Monaten 2,4 Millionen Abonnenten verloren.
Ein Strategiewechsel in Richtung Qualität statt Quantität beziehungsweise Klasse statt Masse könnte also die Lösung sein. HBO Max macht vor, wie das geht: Die eingangs erwähnten „Blade Runner 2049“ und „The Leftovers“ etwa sind dort zu sehen. Ja, auch diese Filme und Serien sind ein Vehikel für Merchandise jeglicher Art. Der Unterschied: Durch sie zeigt sich der Erfolg auch im Künstlerischen. Langfristig gedacht kann sich das für einen Konzern lohnen: Denn während sich in 20 Jahren kaum jemand an den bei Disney+ laufenden Marvel-Film „Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings“ erinnern wird, dürfte „Blade Runner 2049“ mit jedem Jahr an Bedeutung gewinnen. Was immerhin anscheinend auch Amazon Prime nun zu denken gibt: Dort soll in naher Zukunft die Fortsetzung „Blade Runner 2099“ als Miniserie laufen.
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