Sind es Zeichnungen oder sind es Zeichen? Oder sind es zu Zeichen gewordene Zeichnungen, die ein Wort, eine spezifische Begrifflichkeit oder einen Satz, eine Botschaft transportieren? „Ohne Titel“ sind die mit Bleistift und Tusche in wenigen Linien auf Schwarz und Weiß zu Papier gebrachten Zeichnungen benannt. Mehrdeutig sind die miteinander korrespondierenden Linien angeordnet und wollen die Betrachter einladen, sich auf die hervorgerufenen Assoziationen von angedeuteten Räumen, Gegenständen oder Bildern einzulassen. Unter den 30 Blättern, die im größtem Ausstellungsbereich von Kolumba, dem Kunstmuseum des Erzbistums Köln, aufgehängt sind und auf den ersten Blick ein wenig verloren in der Weite des lichtdurchfluteten Raums wirken, befinden sich auch diejenigen Zeichnungen von Monika Bartholomé (geb. 1950), die 2011 von der Deutschen Bischofskonferenz als Illustrationen für die Neuausgabe des „Gotteslobs“ ausgewählt worden sind.
„Es sind Zeichnungen auf dem Weg zum Zeichen, das sich erst über die individuelle Lesbarkeit erschließt“, heißt es erklärend im Begleitheft für die neue Jahresausstellung. Die großzügig gehängten etwa DIN A4-formatigen Blätter entfalten zudem gerade deshalb eine besondere Wirkung, weil sie in Dialog zu den anderen Objekten in diesem Ausstellungsbereich treten: Etwa dem in jede neue Jahresausstellung integrierten wunderbar zeitlosen elfenbeinernen rheinischen Kruzifix aus dem zwölften Jahrhundert, das in so berührender Weise die Botschaft vom Heil und der Erlösung durch den gekreuzigten Christus vermittelt. Das Kreuz mit der Menschengestalt Christi und dessen Botschaft werden nicht nur zum Zeichen, sie werden zum Symbol.
Im Anfang war das Wort
Glaubensferne oder ungläubige Menschen werden sich mit dieser Botschaft von Heil und Auferstehung indes schwer tun, sich bestenfalls an sie herantasten und sich auf sie einlassen oder ihr nur hilflos gegenüberstehen. An diese verschiedenen Varianten einer Annäherung an Wort und Bild erinnert deutlich hörbar der in regelmäßigen Abständen an einer langen Achse montierte Stab in der Mitte des Raumes. Nahezu aufdringlich ist das Klacken im weiten Museumsbau zu hören, wenn er auf den Boden ausschlägt – suchend, unbeholfen, tastend, aggressiv... Der „Blindenstab“, so der Titel dieser mechanisierten Skulptur von Rebecca Horn (geb. 1944), evoziert auf diese Weise die unterschiedlichsten Vorstellungen und Eindrücke. Es sind solche und viele andere Begegnungen, die die Besucher in der neuen Jahresausstellung von Kolumba entdecken. „Wort Schrift Zeichen – Das Alphabet der Kunst“ ist die fast komplett aus dem eigenen Bestand kuratierte Schau betitelt.
Ausgangspunkt zu ihrer Konzeption war für das Museumsteam um Direktor Stefan Kraus und die Kuratoren Ulrike Surmann, Marc Steinmann und Barbara von Flüe der Beginn des Johannes-Evangeliums: „Im Anfang war das Wort.“ Im weiteren Verlauf führt der Evangelist aus, dass alles durch das Wort Gottes ins Dasein gerufen wird, denn „ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“. Die Komplexität dieser Aussage hat vielfach zu Widerspruch herausgefordert. Bekannt ist vor allem die Szene „Im Studierzimmer“ in Johann Wolfgang von Goethes „Faust“. Faust sinniert über den Beginn des Johannes-Evangeliums. „Das Wort“ erscheint ihm zu unbeweglich. „Ich muss es anders übersetzen.“ Aber auch die Variante „Im Anfang war der Sinn“ ist ihm noch zu passiv, ebenso die mögliche Übersetzung „Im Anfang war die Kraft“ ist ihm immer noch nicht aktiv genug. Doch dann: „Mir hilft der Geist! Auf einmal seh' ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“
Hilfreich sind diese Denkfiguren vor allem deshalb, weil sie dazu beitragen, sich auf die Auseinandersetzung mit der neuen Jahresausstellung einzulassen und sich Inhalte und Zusammenhänge der vielfältigen Objekte vom vierten Jahrhundert bis in die Gegenwart zu erschließen. „Wir müssen uns fragen, ob die Tat oder das Denken ein Kunstwerk bestimmt“, sagt Stefan Kraus und ergänzt: „Wie steht es um das Verhältnis von Wort und Bild?“ „Kolumba“ buchstabiert dies in den unterschiedlichsten Facetten durch. Immer wieder entdecken die Besucher dabei spannende, mitunter auch widersprüchliche Präsentationen und Dialoge.
Das fängt gleich im Foyer des Museums an. „Das Alphabet der Dinge“ versammelt in einer mehrteiligen Vitrine unterschiedlichste Objekte alltäglichen Lebens – beispielsweise Pendelleuchte, Apfelsinenpresse, Reiseschreibmaschine, Wandwaage oder ein Eierbecherset. Manche dieser Gegenstände erhalten insbesondere durch ihre Produktnamen eine vieldeutige Perspektive, etwa der Spirituskocher Vulcano, der Haartrockner Turbo oder der Staubsauger mit dem Ehrfurcht erweckenden Titel Präsident. Wer sich auf diese Dinge und deren Marketingnamen einlässt, wird rasch individuelle Erinnerungen damit verbinden oder Überlegungen von den dahinter transportierten sozialen und soziologischen Eigenleben dieser Exponate anstellen können. Fürwahr, ein Einstieg in ein Museum kirchlicher Provenienz, der sich so nicht erwarten lässt und vielleicht auch manche Besucher eher zu irritieren vermag.
Missbrauch von Macht
Irritationen gibt es immer wieder beim Rundgang durch die sehenswerte Schau. Vor allem dann, wenn es darum geht, aufzuzeigen, was passiert, wenn Wörter missbraucht werden, wenn mit ihnen (Macht)Ansprüche verbunden sind, wenn sie ambivalent oder gar missverständlich sind und dringend der Erklärung bedürfen. Ein Leinenwebstück (Swastika) aus dem Ägypten des vierten Jahrhunderts zeigt ein Kreuz mit vier abgewinkelten Armen – ein Jahrhunderte altes Zeichen für Glück und Erneuerung. Eben dieses Hakenkreuz wird dann aber zum Symbol für Ausgrenzung, Entrechtung, Judenhass, Rassismus und Massenmord. In einem abgenommenen Mauerputz auf Gaze von Dorothee von Windheim (geb. 1945) aus dem Jahr 1974 wurde der Buchstabe „Z“ aus dem verwitterten Schriftzug einer alten Fabrik in Florenz isoliert. Heute ist er als militärisches Symbol für den russischen Krieg gegen die Ukraine bekannt.
Wörter können sich ebenso wie Kunstwerke im Laufe der Zeit wandeln oder umgedeutet werden; Zeichen und Kunstobjekte verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung, werden uneindeutig und verändern sich. Immer wieder stellen die Ausstellung insgesamt sowie ihre einzelnen Objekte unaufdringlich an den einzelnen Besucher die Frage nach dem eigenen Verständnis von Schrift und Werk, von Zeichen und Symbol. Eindeutig unzweideutig in seiner antisemitischen Aussage ist indes ein kolorierter Holzschnitt, den Jodocus Schlappal (1793–1837) im 19. Jahrhundert über die Passion Christi in gereimter Form herausgegeben hat. Einzelne Wörter sind durch Piktogramme dargestellt. Als Jesus bei seiner Festnahme dem Malchus das von Petrus abgeschlagene Ohr heilt, heißt es: „Dies Wunder sollt die Judenrott viel grausamer noch machen.“
Warum wird hier von den Kuratoren nicht klargestellt, dass diese verächtliche Aussage über eine „Judenrott“ in keiner erkennbaren Weise durch die Schilderung in den Evangelien gedeckt ist? Nur wer sich die Mühe macht und ins Begleitheft schaut, wird aus heutiger Sicht eine verharmlosende Erklärung finden: „In der Wortwahl wird die judenfeindliche Tendenz der damaligen Frömmigkeit deutlich.“ Es ist richtig, dieses Beispiel für einen jahrhundertealten innerkirchlichen Antisemitismus zu benennen und zu zeigen. Aber noch wichtiger ist es, den historischen Kontext zu beschreiben und klar einzuordnen.
Der Kölner Dom wird in die Jahresausstellung einbezogen. In dem Raum mit dem knapp vier Meter breiten und über vier Meter hohen Fenster, das nicht nur einen eindrucksvollen Blick auf das Gotteshaus ermöglicht, sondern dieses gleichsam rahmt, begegnen die Ausstellungsbesucher erneut dem Zeichen und Symbol des Kreuzes. Farbenfroh hat Andy Warhol (1928–1987) seine „Crosses“ angehäuft. Handelt es sich um ein riesiges Einzelbild oder um ein seriell entleertes Kunstprodukt? Spannungsvoll wird die Szenerie aufgeladen durch die Korrespondenz mit dem den „Crosses“ gegenübergestellten aufwendig gestalteten spätmittelalterlichen Vortragekreuz von St. Kolumba.
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