Leonard Bernstein war ein Meister der Inszenierung, die Verkörperung von höchster Passion am Dirigentenpult (wie gleichsam beim Komponieren). Alles musste stimmen und sollte maximale Wirkung erzielen!
Was hätte dieser Mann wohl zum Streit um die künstlich vergrößerte Nase jenes Darstellers gesagt, der ihn in einem Biopic repräsentieren sollte? Ihn, der selbst nach Angaben seiner Nachfahren über ein stattliches Riechorgan verfügt haben soll? Nun ja, wahrscheinlich hätte er sich für die perfekte Show und weniger für die Einwände auf den sozialen Netzwerken entschieden. Dort entfachte die Maske Bradley Coopers, also des Schauspielers hinter dem gefeierten, jüdischstämmigen Musiker in dem Film „Maestro“, einen Shitstorm. Der Vorwurf: die zu große Nase befördere antisemitische Klischees.
Und schon wieder scheint die Cancel Culture den Diskurs zu bestimmen. Alles was in diesem Werk über Bernstein gesagt wird, verliert an Wert, tritt wegen der Reduktion auf ein physisches Merkmal in den Hintergrund.
Wo bleibt der überfällige Aufstand?
Spitzen wir die Argumentation einmal ein wenig zu, dürften sich eigentlich auch andere Gruppen benachteiligt fühlen, weil Cooper eben weder über die Reife an Lebensjahren, noch den beruflichen oder kulturellen Hintergrund des Genies verfügt.
So wären gefärbte graue Haare ein Affront gegen das Alter, imitierte Gesten eines Musikers eine Finte auf die Kunst. Und so weiter. Schnell wird deutlich, wie diese Diskussion in die Leere und einen gefährlichen Essenzialismus mündet. Ihm zufolge dürften dann nur noch Schauspieler Bernstein repräsentieren, die eine exakte Ähnlichkeit zu ihm aufweisen würden. Im Grunde dürfte nicht mehr gespielt werden. Alles entspräche ansonsten einer nicht vertretbaren kulturellen Aneignung.
Symbolkämpfe statt wahres Opfertum
Während diese Debatte wieder einmal viel Lärm um nichts betreibt, fragte man sich just hingegen bei einer ganz anderen, wo der überfällige Aufstand geblieben ist. Niemand geringeres als jener Choreograf, der der Tanzkritikerin Wiebke Hüster aus Zorn Hundekot ins Gesicht schleuderte, sollte nun nach einer Büßerpause wieder an der Staatsoper Hannover inszenieren dürfen. Allzu leise vernahm man hier und da in der vergangenen Woche Einwände. Viel Gras schien über die Affäre gewachsen zu sein.
Nur einmal war dann tatsächlich auf die Politik Verlass. Denn Niedersachsens Kulturminister Falko Mohrs (SPD) bezeichnete die Rehabilitierung Marco Goeckes zu Recht als inakzeptabel – was dann wohl auch der Intendanz einleuchten musste. Im Gegensatz zum künstlich befeuerten Nasenstreit ging dieser Affäre ein echter und widerlicher Übergriff voraus.
Offensichtlich wird gerade in der Gegenüberstellung dieser beiden Fälle die gesamte Tragödie der woken Sensibilisierungsstrategie. Statt wahres Opfertum zu beklagen, ficht man Symbolkämpfe aus. Als Konsequenz gerät die manifeste Gewalt aus dem Blick. Das eigentliche Anliegen – die Gleichheit aller Menschen (unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Religion) – verliert an Bedeutung. Nein, dafür sind die wirklichen Benachteiligungen in vielen Bereichen unserer Gesellschaft zu wichtig, als dass sich unsere Aufmerksamkeit dafür auf Luftnummern verlagern sollte.
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