Christlicher Glaube ist nicht einfach statisch vorhanden, sondern will leben, wachsen, erkennen und verstehen. Zwischen einem unreflektierten „Köhlerglauben“, einem elitär abgehobenen Glauben und einem säkularen Agnostizismus gibt es viele Übergänge. Gebildete Christen/Katholiken suchen selbst ihren Weg, zumal nach einem bekannten Wort Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. zu Peter Seewald so viele Wege zu Gott führen, wie es Menschen gibt. Doch eine Unterscheidung der Geister und der Wege ist stets angebracht. Schon seit Jahrzehnten bieten sich esoterische Weltanschauungen und Lebenspraktiken an, werden wahrgenommen, ertragen und als Herausforderung begriffen. Im Buchhandel haben esoterische Titel christlich-Religiöses fast verdrängt. Vor allem die Jesuiten Josef Sudbrack (1925-2010) und Bernhard Grom (*1936) haben sich immer wieder kompetent mit der Thematik befasst und dabei eine Vulgär-Esoterik, die nicht über Engelwelten und Dinkelkörner hinauskommt, von ernst zu nehmenden Angeboten wie der auf Rudolf Steiner (1861-1925) zurückgehenden Anthroposophie unterschieden. Diese steht gegen die Fixierung auf Materielles und thematisiert geistige Realitäten.
Der esoterisch-charismatische Jesuit Wilhelm Klein
Esoterische Strömungen begleiten nicht nur die asiatische Geistesgeschichte, sondern seit seinem Aufgang auch das jüdisch-christliche Abendland. Im Kanon der neutestamentlichen Bibel sind vom Apostel und Evangelisten Johannes, aber auch von Paulus, Texte und Offenbarungen mit mystisch-esoterischer Tendenz überliefert. Außerhalb der Bibel gibt es die gnostischen Schriften der Kopten von Nag Hammadi, die Apokryphen und die Qumran-Texte der Essener, die Klaus Berger und Christiane Nord in ihrer mehrfach aufgelegten Übersetzung „Das Neue Testament und frühchristliche Schriften“ (Frankfurt/Leipzig 1999) präsentieren. Die geheimnisvollen Schriften des Ägypters Hermes Trismegistos, des „dreimal größten Hermes“, bilden eine „hermetische Tradition“, die über das Mittelalter, die Renaissance, die Aufklärung, die Freimaurerei und den Mesmerismus bis zu Kants „Träume eines Geistersehers“ oder den Romanen Umberto Ecos reicht. Paracelsus, Jakob Böhme und die Blumhardts haben ihre eigene Esoterik außerhalb der offiziellen Kirchenlehre. Die Kabbala ist eine Art Esoterik des Judentums, Mystik und Privatoffenbarungen eine solche des Christentums – wobei katholisch das Lehramt jeweils das letzte Wort hat. Den legendären esoterisch-charismatischen Jesuiten Wilhelm Klein (1889-1996), der am Germanicum in Rom als Spiritual wirkte, nannte Karl Rahner trotz seiner wenigen Veröffentlichungen einmal den „vielleicht bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts“.
Gnosis heißt zunächst neutral „Erkenntnis“ und ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Der Mensch hat Geist und Verstand, um sich selbst, Gott und die Welt zu erkennen. Dieses Bedürfnis beantwortet das Christentum, für das Glaube und Vernunft (fides et ratio) die „beiden Flügel sind, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt“ (Johannes Paul II.). Die altchristliche Gnosis, über die Hans Jonas und Christoph Markschies Werke schrieben, ist nicht identisch mit der leibfeindlichen „gnostizistischen“ Häresie, gegen die sich Ende des 2. Jahrhunderts der erst von Papst Franziskus zum Kirchenlehrer ernannte Bischof Irenäus von Lyon wandte. Dessen Textauswahl nannte Hans Urs von Balthasar „Gott in Fleisch und Blut“ (Einsiedeln 1982).
Eine moderne Form der Gnosis
Es gibt auch eine rechtgläubige „Gnosis des Christentums“. Georg Koepgens gleichnamiges Buch (Salzburg 1939) wurde nach einer Rezension von Karl Rahner allerdings auf den Index gesetzt. Von Gnosis als solcher ist also ein häretischer Gnostizismus klar zu unterscheiden. Diesen verurteilt auch Papst Franziskus – wie zuvor seine Glaubenskongregation („Placuit Deo“, 2018) – ausführlich in dem Schreiben „Gaudete et exsultate. Über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute“ (19. März 2018) zusammen mit einem Neo-Pelagianismus, der die individualistische Freiheit des Menschen über die göttliche Gnade stellt, als „zwei subtile Feinde der Heiligkeit“ (35-62). Alle Ideen der „Selbsterlösung“ werden abgelehnt. Deutlich und drastisch sagt der Papst: „Der Gnostizismus ist eine der schlimmsten Ideologien. Er überbetont nämlich die Erkenntnis oder eine bestimmte Erfahrung und hält gleichzeitig seine eigene Sicht der Wirklichkeit für vollkommen“ (40). Ein elitäres Überlegenheitsgefühl der „Wissenden“ über andere „einfache“ Gläubige widerspricht dem Wort Jesu: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast“ (Matthäus 11, 25).
Steiners Anthroposophie ist eine moderne Form der Gnosis, kein antichristlicher Gnostizismus. Der Steiner-Biograph und führende Anthroposophie-Forscher Helmut Zander (Fribourg) hat 2019 im Heiligenkreuzer Ambo-Jahrbuch „Esoterik versus Erlösung“ einen Aufsatz über „Esoterik und katholische Theologie“ veröffentlicht, in dem er Steiner als den „Gründer der vermutlich einflussreichsten und ausgesprochen nachhaltig wirkenden esoterischen Gemeinschaft, die wir weltweit bis heute kennen“ bezeichnet. Steiner ließ sich prägen von den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, die er im Licht des deutschen Idealismus las. Er erwog in seiner Wiener Jugendzeit, eventuell Zisterzienser zu werden, fand aber dann zur Theosophischen Gemeinschaft der gebürtigen Ukrainerin Helena Blavatsky, von deren Okkultismus er sich später distanzierte. 1912 gründete er in Köln die „Anthroposophische Gesellschaft“. Wichtig war dem „Querdenker“ Steiner, dass der Mensch durch die Anthroposophie von der religiös gewohnten „Verstandes- oder Gemütsseele“ zu einer „Bewusstseinsseele“ findet.
Spaemanns und Balthasars Einsatz für ein Tarot-Buch
Seine Hauptwerke waren eine „Philosophie der Freiheit“ (1894) und „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (1905). In Dornach (Schweiz) entstand nach einem Brand des ersten Hauses der futuristische Bau des „Goetheanums“ als Zentrum der Bewegung. Bekannt sind bis heute ihre praktischen Folgen: Die Waldorfpädagogik mit ihren bis in die Gegenwart sehr beliebten Schulen, die Demeter-Landwirtschaft, die in jedem Drogeriemarkt erhältliche Weleda-Produkte, eine anthroposophische Medizin und sogar eine Bank (GLS). 1922 wurde für Christen unter den Anthroposophen eine „Christengemeinschaft“ mit fast traditioneller Liturgie gegründet.
Zander fasst Steiners Weltanschauung knapp so zusammen: „Seine zentralen Vorstellungen beinhalten die Existenz einer geistigen Welt, eines letztlich geistigen Kosmos und den damit verbundenen Glauben an die Göttlichkeit des innersten Menschen, des ,Ich‘, und an dessen Entwicklung durch die Reinkarnationen hindurch.“ Letzteres macht jedoch den Körper des Menschen zu einem bloßen Durchgangsprovisorium und ist ein Hauptwiderspruch zur Lehre des Christentums von der Einmaligkeit der menschlichen Existenz in Leib, Geist und Seele als „forma corporis“. Unabhängig voneinander haben die katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar und Christoph Schönborn dies 1986 in Aufsätzen zur Seelenwanderung und zur Reinkarnation ohne apologetische Polemik klargestellt.
Die größte und dichteste Annäherung zwischen Katholiken und der Anthroposophie
Wie steht der katholische Glaube zur Anthroposophie? „Anthroposophie und Kirche. Erfahrungen eines Grenzgängers“ (Freiburg 1996) nennt der Staatsrechtslehrer Martin Kriele (1931-2020) seinen Lebensbericht dazu. Er fand aus dem aufgeklärt-liberalen Milieu einer von ihm so genannten protestantischen „Theologie ohne Mysterium“ zur Anthroposophie und nach der Begegnung mit dem „Eingeweihten“ und Konvertiten Valentin Tomberg (1900-1973) zur katholischen Kirche. Kriele konvertierte selbst 1968 unter seinem Eindruck und gab seine Begeisterung für Tomberg an Robert Spaemann, seinen Freund aus der philosophischen „Ritter-Schule“, weiter. Beide gaben mit einer Einführung Hans Urs von Balthasars 1983 bei Herder posthum und zunächst anonym Tombergs esoterisches Hauptwerk der „Meditationen über den Tarot“ heraus. Es war dies die größte und dichteste Annäherung zwischen einem Katholiken und der Welt der Anthroposophie, die dann von anthroposophischer Seite torpediert wurde. Tomberg wurde wegen „Jesuitismus“ ausgeschlossen und Kriele verließ nach Abschluss seines Buches selbst die „Anthroposophische Gesellschaft“. Beide hielten weiter Steiner und sein Werk in Ehren, aber die ganze Wahrheit Christi fanden sie in der Kirche des Petrus.
Das Beispiel zeigt: Es ist nicht möglich, im vollen Sinn esoterischer Anthroposoph und gläubiger Christ zu sein. Die Anthroposophie bleibt im postmodernen Zeitalter eines „Transhumanismus“ zwar wichtig als „Gegenpol zum materialistischen Weltbild“ (Kriele), aber ihre Vergeistigung ist leider oft blutleer und wenig humorvoll geerdet, wie man bei einem Besuch im erschlagenden Betonklotz des Goetheanums erspüren kann. Eine Kritikerin (Charlotte Rudolph) hat ironisch von „Versteinerung“ gesprochen. Die christliche Phantastik eines J. R. Tolkien, C. S. Lewis oder Werner Bergengruen ist weiterführender als die geschlossene Welt der Anthroposophie.
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