Man kann nicht glauben, dass er jetzt tot ist. Josef Ratzinger war ein geistig so unglaublich lebendiger Mensch. Er war witzig, köstlich ironisch und liebte den Humor. Er lachte herzlich und war ungemein präsent. Ich habe nie einen intelligenteren Menschen erlebt, nie jemanden mit einem besseren Gedächtnis – und dabei wirkte er nie stolz auf seine außergewöhnlichen Begabungen, nie eitel oder von oben herab. Er liebte die Augenhöhe, die intellektuelle Begegnung, gerne auch mit Gegenmeinungen. Doch diese Augenhöhe war ihm je länger je mehr immer weniger vergönnt, vor allem als er am Ende der Heilige Vater war und alle zu ihm aufschauten.
Beim Weltjugendtag in Köln musste Kardinal Meisner Papst Benedikt, der sich auf dem Rheinschiff angeregt und interessiert mit Jugendlichen unterhielt, immer wieder darauf hinweisen, dass da an den Ufern Tausende junger Menschen standen, die ihm zujubelten und dass er da zurückwinken müsse. Er machte das dann pflichtgemäß und mit der Zeit klappte so etwas besser, aber diese Massenveranstaltungen blieben ihm fremd. Für Benedikt war auch eine Gruppenaudienz eine Addition von anregenden menschlichen Einzelbegegnungen und er bemühte sich immer, einem die Befangenheit zu nehmen, vor allem, indem er zumeist amüsant an vorige Begegnungen anknüpfte. Und das war fast etwas Unheimliches an ihm. Denn er pflegte Gespräche mit größter Selbstverständlichkeit an dem Punkt fortzusetzen, an dem man beim letzten Mal aufgehört hatte – allerdings unter Umständen vor einem oder zwei Jahren! Er verfügte über ein phänomenales Gedächtnis und auch über eine geradezu kuriose Auffassungsgabe und Merkfähigkeit.
...und Ratzinger sprang für den Dolmetscher ein
Robert Spaemann schilderte mir eine Situation, als er mit Teilnehmern seines Seminars bei Kardinal Joseph Ratzinger in Rom in der Glaubenskongregation war. Es ging um die Evolutionstheorie und die Referenten sprachen auf Deutsch und auch auf Italienisch. Deswegen gab es Simultanübersetzer. Nun hatte ein Italiener sich so in Rage geredet, dass der Übersetzer gleich zu Beginn nicht mehr mitkam und aufgab. Freilich traute sich aus Höflichkeit niemand, das zu sagen, so dass der Vortrag komplett ohne Übersetzung über die Bühne ging. Erst nachdem der Referent geendet hatte, kam etwas kleinlaut die Information, dass viele diesen Vortrag mangels Übersetzung nicht verstanden hatten. Kardinal Ratzinger waren während des Referats von seinem Sekretär Akten zur Unterschrift hereingereicht worden, denen er sich die ganze Zeit über gewidmet hatte, so dass man davon ausging, dass auch er nur flüchtig zugehört hatte. Als er nun aber erfuhr, dass die Übersetzung ausgefallen war, klappte er die Aktenmappe zu und referierte aus dem Stegreif höchst präzise, was gerade gesagt worden war. Dann fragte er den Referenten, der etwas Deutsch konnte, ob die Übersetzung so richtig gewesen sei. Der bejahte verdutzt. Und dann schloss Ratzinger an: „Und jetzt möchte ich Ihnen sagen, warum ich völlig anderer Auffassung bin ...“ So etwas machte ihm Spaß.
Doch von solchem Spaß gab es nicht viel in den verantwortungsvollen Tätigkeiten, zu denen er in seinem Leben berufen wurde. Von Herzen – und das sagten alle, die ihn gut kannten – war er Professor, Lehrer der Theologie, und das blieb er auch. Er liebte es, theologische Sachverhalte in seiner klaren melodischen Sprache zu erklären, interessante kontroverse intellektuelle Debatten zu führen. Und deswegen war wohl die ihm liebste Frucht selbst seines Pontifikats nicht irgendeine Lehrentscheidung, sondern ein theologisches Werk, das dreibändige „Jesus von Nazareth“, in dem er die Bilanz der theologischen Debatten der Nachkonzilszeit zieht: Was bleibt, was ist belegbar und was waren Irrwege. Und selbstverständlich erklärt er bereits im Vorwort, dass das Ganze natürlich keine Unfehlbarkeit beanspruche, sondern dass er auf Widerspruch hoffe, allerdings auch – eine herrliche und typische Ratzinger-Formulierung, die sofort einleuchtet – auf den „Vorschuss an Sympathie ..., der Voraussetzung für das Verstehen ist“.
Distanz zum Zeremoniellen
Alles andere waren Aufgaben, die er nicht gesucht hatte, sondern die ihm zumeist gegen sein anfängliches Sträuben auferlegt wurden und die er in heiterer Pflichterfüllung dann doch gehorsam auf sich genommen hat, Rollen, die er aber nicht liebte, sondern mit leicht ironischer Distanz, aber doch ernsthaft nach bestem Wissen und Gewissen spielte. Ich erinnere mich noch, wie ich ihn und Kardinal Höffner zur Einführung des neuen Rektors der Anima vom Campo Santo Teutonico Anfang der achtziger Jahre in einem Kleinwagen über den Tiber chauffierte und Ratzinger darauf bestand, dass der „ehrwürdige Cardinalis Höffner“ natürlich vorne sitzen müsse. Es war diese leichte Ironie, die nicht verletzt, aber doch eine gewisse Distanz von all dem zeremoniellen Gewese signalisierte und die ihm auch als Papst eigen blieb. Als ich meine erste Privataudienz bei ihm hatte, stürzten am Ende ein paar Fotografen in den Raum, da nahm er mich beim Arm und zog mich lächelnd mit den Worten an die Wand „das ist jetzt neu, das müssen wir leider über uns ergehen lassen“, wie an die Wand gestellt sehen wir dann auf dem Bild auch aus.
Zum Erzbischof von München und Freising wurde er mit gerade mal fünfzig Jahren ernannt, obwohl er, wie er in seiner Autobiographie schreibt, zur Administration immer schon wenig Neigung verspürt habe. Damit beginnt die lange Zeit unter dem Joch der Pflicht. Sofort nach seinem Amtsantritt will Papst Johannes Paul II. ihn zum Leiter der Glaubenskongregation machen. Wieder will er nicht, aber der Papst will. Ratzinger erreicht schließlich wenigstens, dass Johannes Paul ihm ausdrücklich erlaubt, weiter zu publizieren, also nicht bloß zu sagen, was theologisch nicht geht, sondern auch konstruktive theologische Vorschläge zu machen. Als Leiter der Glaubenskongregation verhindert er vielfach strengere Zensuren. Man meint Ratzingersche Ironie herauszuhören, als die Glaubenskongregation dem nicht uneitlen Vielschreiber und Vielredner Leonardo Boff, der sich theologisch vergaloppiert hatte, ein einjähriges „Bußschweigen“ auferlegt. Diese merkwürdige Maßnahme macht Leonardo Boff erst richtig berühmt.
Einen Monat vor Ende des Jahres lässt Ratzinger die Zensur wieder aufheben. Überhaupt sind ihm die Machtinstrumente der Glaubenskongregation eigentlich wesensfremd, wie Macht überhaupt. Kuriale Intrigen sind ihm gleichgültig, er selber hält sich von solchen Umtrieben fern. Er tut seine Pflicht gewissenhaft und klaglos, aber Freude hat er nicht daran, Menschen zurechtzuweisen. Das hindert seine Gegner aber nicht, ein absurdes Zerrbild des „Panzerkardinals“, des ewig Gestrigen, des mitleidlosen Großinquisitors unter die Leute zu bringen. Doch es gibt wohl keinen Menschen, dessen wirkliches Wesen so meilenweit entfernt ist vom öffentlichen Bild, das nicht zuletzt seine oft neidischen Kollegen vom theologischen Wunderkind Josef Ratzinger fabriziert haben.
Einer der modernsten Theologen
Dem „Panzerkardinal“ blieb Macht in Wahrheit zeit seines Lebens fremd, was in den verantwortungsvollen Ämtern, die er bekleidete, durchaus auch ein Problem war. Der „mitleidlose Großinquisitor“ hat in seiner Zeit weniger Zensuren verhängt als früher üblich. Der angeblich „ewig Gestrige“ war einer der modernsten Theologen, der das Zweite Vatikanische Konzil erheblich mehr geprägt hat als sein Kollege Hans Küng das von sich selbst lauthals behauptet. Ratzinger blieb dieser moderne Theologe auch, als er später nach Regensburg ging, was seine Gegner ihm immer als Flucht vor den 68ern in Tübingen ausgelegt haben. Während andere Theologen aber entweder gedankenlos mit jeder neuen geistigen Welle mitschwammen oder einfach so weitermachten als sei nichts geschehen, zeigte Ratzinger immer ein äußerst waches, modernes Gespür für das, was geistig angesagt war, aber gerade deswegen nahm er es differenziert wahr, er sah die Chancen, aber auch die Gefahren mancher Moden.
Wer in seiner Jugend in die Hitlerjugend gezwungen wurde, der besingt nicht kritiklos jede „neue Zeit“. Und weil er eben kein konservativer Archivar des immer schon Gültigen war, sondern ein lebendiger moderner Denker, der wusste, was man verliert, wenn man die Schätze der Tradition verachtet, aber der auch klar sah, dass man die Tradition nur wirklich bewahren konnte, wenn man sie dem Säurebad modernen kritischen Denkens aussetzte, war er und nicht etwa Hans Küng oder Eugen Drewermann ein gesuchter Gesprächspartner für Menschen wie Jürgen Habermas. Bis zum Schluss war er ein bewundernswert freier Geist. In meinem letzten Gespräch mit ihm meinte er, auf Papst Franziskus angesprochen, er habe ein sehr gutes Verhältnis zu ihm, liege theologisch ganz auf seiner Linie, um dann lächelnd hinzuzusetzen: „Im Übrigen bin ich noch nie mit einem Papst völlig einverstanden gewesen, auch nicht mit Pius XII.“
Auch Papst wollte er natürlich nicht werden. Wie ein Fallbeil habe er die Wahl empfunden, so erzählte er es in heiterem Ton nach seiner Wahl. Aber wer ein solches Bild wählt, der ist nicht bei seinem Traumjob angekommen. Für Josef Ratzinger war es eine Last, Papst Benedikt XVI. zu werden. Er litt, als in der Williamson-Affäre Menschen in „sprungbereiter Feindseligkeit“ mit ungerechten Behauptungen gegen ihn zu Felde zogen – einschließlich der deutschen Bundeskanzlerin. Und auch als ihn am Ende Menschen aus seinem engsten Umfeld verrieten, hat ihn das gewiss tief getroffen, denn er selber war immer loyal, loyal bis zur Selbstaufgabe. Als Kardinal Meisner ihn zur Abberufung von Kardinalstaatssekretär Bertone drängte, da hat er sogar mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gesagt: Bertone bleibt, Bertone bleibt, Bertone bleibt. Er trat lieber selber zurück als seinen unfähigen zweiten Mann zu opfern.
Er hoffe, bald nach Hause zu gehen, sagte er mir im letzten Gespräch, es seien ja schon so viele Freunde „drüben“. Da ist er jetzt endlich auch und wenn man nicht glauben kann, dass er jetzt tot ist, dann ist das ja ganz richtig. Denn gerade wenn ein so lebendiger Mensch stirbt, kann man die Gewissheit erleben, dass es das ewige Leben gibt.
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