Die Theologin Saskia Wendel hat ein Buch zum Thema „In Freiheit glauben“ (Regensburg 2020) geschrieben. Sie gehört zu den Theologen, deren Anliegen den Kurs des Synodalen Weges prägt: das Anliegen, dass die Kirche endlich in der Moderne ankommt, zu deren Grundmotiv die „Hochschätzung von Autonomie“ (S. 7) gehöre. „Autonomie“ im Sinne von Selbstbestimmung ist der Freiheitsbegriff, der seit Immanuel Kant die Moderne beherrscht.
In der ersten Hälfte ihres Buches versucht Wendel eine philosophische Bestimmung der Freiheit, wie sie sie versteht. Die logische Tortur, die der Freiheitsbegriff darin über sich ergehen lassen muss, ist eine genauere Betrachtung wert. Wir wollen herausfinden, ob er imstande ist, das Erbe Kants anzutreten und ob die von Wendel angepriesene Freiheit wirklich so erstrebenswert ist.
Für Kant hat Freiheit „unbezweifelte Realität“
Sind wir Menschen in unserem Wollen und Handeln frei? Gibt es Freiheit? Viele Naturwissenschaftler bestreiten das. Wendel gibt auf diese Frage verschiedene Antworten. Sie lehnt, wie sie an mehreren Stellen betont (S. 22, S. 44), sowohl Theorien ab, die die Frage bejahen, als auch solche, die sie verneinen. Aber auf Seite 81 hält sie es mit dieser Urteilsenthaltung nicht mehr aus und sagt über die Freiheit: „streng genommen existiert sie ja in transzendentaler Perspektive überhaupt nicht“. Schon zuvor nennt sie Freiheit an mehreren Stellen eine Illusion, und zwar eine „transzendentale Illusion theoretischer Vernunft“ (22). Als Kronzeuge für diese Meinung nimmt sie Immanuel Kant in Anspruch. Zu Unrecht. Zwar war für Kant, wie Wendel richtig sieht, der Freiheitsbegriff „ein regulatives Prinzip theoretischer Vernunft und ein Postulat praktischer Vernunft“ (22). Aber daraus folgt nicht sein Illusionscharakter. Kant hält die Frage der Realität der Freiheit zunächst für unentscheidbar. Das ist der Stand der Dinge zur Zeit der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/87). Dabei geht es Kant aber gerade darum, die Möglichkeit der Realität der Freiheit offenzuhalten und den Illusionsvorwurf abzuwehren. Vor allem aber übersieht Wendel, dass Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) seine Position ändert.
Hier hat er einen Weg gefunden, die Frage zu entscheiden, und zwar aufgrund der moralischen Sollenserfahrung. Kant kommt zur Überzeugung, dass das moralische Gesetz dem Freiheitsbegriff „objective und, obgleich nur praktische, dennoch unbezweifelte Realität verschafft“ (AA V 49). Die Beschränkung auf „praktische“ Realität bedeutet bei Kant lediglich, dass das moralische Gesetz keine intellektuelle Anschauung der Freiheit liefert. Eine solche Anschauung hielt Kant stets für unmöglich. Er erklärt in der zitierten Passage, dass der spekulativen Vernunft zwar keine neue Einsicht zuwachse, wohl aber die „Sicherung ihres problematischen Begriffs der Freiheit“. Diese Sicherung leistet das Moralgesetz. Wenn bis dahin der Freiheitsbegriff problematisch war, dann bedeutete dies lediglich die Unmöglichkeit, sich der Freiheit als einer Tatsache zu vergewissern und sie unter die scibilia, unter das Wissbare, zu rechnen. Mit der Sicherung durch das Moralgesetz aber ist genau dies möglich geworden, so dass Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) die Freiheitsidee qualifizieren kann als: „Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Thatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muß“ (KU AA V 468).Das Moralgesetz sichert nach Kant nicht nur die Realität der Freiheit, sondern auch die der reinen praktischen Vernunft: „Die objective Realität eines reinen Willens oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ist im moralischen Gesetze a priori gleichsam durch ein Factum gegeben.“ (KpV AA V 55)
Weil Freiheit keine Substanz ist, muss sie irreal sein?
Es ist deshalb völlig verfehlt, wenn Wendel der Kantischen Freiheit den „epistemologischen[n] Modus ,Als ob‘“ (80) unterstellt. Da für Kant Moral und Freiheit untrennbar sind, würde diese Unterstellung auch die Moral treffen. Nichts aber lag Kant ferner, als Moral zum Projekt eines bloßen „als ob“ zu erklären. Für Kant besteht die Freiheit geradezu in der Moralfähigkeit. Die Pointe seines Gedankengangs besteht in der Entschiedenheit, mit der er den moralischen Imperativ ernst nimmt. Allein schon dieses Ernstnehmen ist eine erste Verwirklichung der Moralfähigkeit und damit von Freiheit. Denn sobald Moral wirklich wird, ist auch schon die Wirklichkeit der Freiheit gesichert. Wirklich wird sie aber bereits durch die moralische Gesinnung, also durch die Aufnahme moralischer Maximen in den eigenen Willen. Anders ausgedrückt: So wahr uns der kategorische Imperativ als Faktum der Vernunft gegeben ist, so wahr ist es, dass wir zu moralischen Maximen und Handlungen fähig und somit auch frei sind. Kant ist in Sachen Freiheit so weit vom epistemologischen Als-ob-Modus entfernt wie Wendel von einem adäquaten Verständnis der kantischen Philosophie.
Wendel bemerkt überdies nicht ihre logische Inkonsequenz, wenn sie einerseits freimütig ontologische Erwägungen über die Freiheit als „Prinzip der Kreativität“ oder als „Prinzip aller Vermögen“ anstellt, dann sich aber in die These von der Irrealität der Freiheit flüchtet, um unbequemen Konsequenzen präziser Nachfragen (etwa durch Magnus Lerch: S. 80, oder Thomas Schärtl: S. 92) aus dem Weg zu gehen. Dann darf Freiheit plötzlich nicht mehr zum „Gegenstand ontologischer Erwägungen“ (92) werden. Denn solche Erwägungen würden „Freiheit“ zu einem Substanzbegriff machen. „Ebenso wenig wie eine Seelensubstanz existiert eine Freiheitssubstanz im Inneren bewussten Daseins“ (92). Welche Neuigkeit! Weil also Freiheit keine Substanz ist, muss sie irreal sein und kann auch keine „Entscheidungen oder Handlungen“ verursachen. Wendel kann sich Realität offensichtlich nur in Form von mechanisch wirkenden Substanzen vorstellen. Dazu passt auch ihre merkwürdige Aussage, dass Freiheit nicht als „ein ,An sich‘, losgelöst vom einzelnen Dasein“ (81) existiere. Wer hat das je behauptet? Wendel aber folgert daraus, dass es Freiheit „streng genommen“ nicht gebe.
Auf der anderen Seite bringt sie das Kunststück fertig, die Realität der Freiheit zu leugnen und gleichzeitig ihren „realen Vollzug“ (50) zu behaupten. Mitunter trifft sie die Unterscheidung zwischen transzendentaler und materialer Freiheit. Letztere vollzieht sich konkret im Wollen und Handeln. Auf diese Unterscheidung greift sie gerne dann zurück, wenn sie fremde Thesen kritisieren, ihre eigenen aber gegen Kritik immunisieren will. Sie hält aber diese Unterscheidung bei der Entwicklung ihres eigenen Gedankengangs nicht konsequent durch. So beansprucht sie etwa für ihren eigenen transzendentalen Freiheitsbegriff die Erkenntnis, dass Freiheit ein „Prinzip jedweder Vermögen (und damit auch des Willens und des Handelns)“ sei (43). Wenn diese Aussage einen Sinn haben soll, dann muss Freiheit denselben Realitätsstatus haben wie unser Wollen und Handeln.
Das Begehren wird bei Wendel Grund des Handelns
Kants Gedanken sind dagegen von erfrischender Klarheit: Auch er hält „Freiheit“ nicht für eine losgelöst vom bewussten Dasein umherspazierende Substanz, sondern für eine „Eigenschaft unseres Willens“ (KrV B 29), nämlich die Fähigkeit zum Handeln, genauer gesagt: die Fähigkeit, spontan (d. h. ohne selber durch Naturgesetze determiniert zu sein) eine Wirkung in der Sinnenwelt hervorzurufen, also einen neuen Anfang in der Reihe der Erscheinungen zu setzen. Meine Handlung ist dann nicht mehr bloß ein Vorgang in der Sinnenwelt, der durch vorhergehende Vorgänge verursacht wäre (Naturkausalität), sondern die Wirkung meines Willens, der sich nach der Vorstellung von Gesetzen (nämlich des Moralgesetzes) selbst zur Handlung bestimmt. Diese Selbstbestimmung zur Handlung ist das, was Kant „Kausalität aus Freiheit“ nennt. Sie ermöglicht die moralische Zurechnung der Handlung. Kraft meiner Freiheit bin ich ihr verantwortlicher Urheber.
Einerseits scheint Wendel dies in den Passagen, in denen sie Kants Philosophie wiedergibt (27-30), verstanden zu haben, andererseits gibt sie diese Erkenntnisse in ihren eigenen Überlegungen wieder preis. Sie nennt Kants Ausdruck „Kausalität aus Freiheit“ ein Oxymoron, also eine Zusammensetzung aus Begriffen, die einander widersprechen. Freiheit kann ihrer Meinung nach nichts verursachen, weil sie dadurch zu einer ontologischen Größe hypostasiert würde. Wenn unser Wollen und Handeln nicht aus Freiheit verursacht sind, wie dann? Sie sind dann entweder völlig unverursacht oder Wirkung einer Naturkausalität. Wendel entscheidet sich für Letzteres: Die Zurückweisung des Kantischen Freiheitsbegriffs erlaubt es ihr, aus Sympathie zu den Anschauungen Nietzsches, Foucaults und Judith Butlers das Begehren als Triebfeder des Handelns zu rehabilitieren und zuzugestehen, dass Wollen und Handeln als „konkrete[n] Vollzüge materialer Freiheit […] auch durch die Kraft des Begehrens bestimmt und in dessen Struktur verstrickt“ seien (49). Die „subversive Kraft des Begehrens“ unterwandere zwar unser Wollen und Handeln, aber nicht ihr Prinzip, die Freiheit. Diese lasse auch „gegenüber der Subversion des Wollens und Tuns durch das Begehren einen Spielraum des Sich-verhalten-Könnens, ein Moment kritischer Distanz“ (49).
Das Ziel ist die Abschaffung der Autorität Gottes
Das ist die Rückkehr der Heteronomie. Denn was geschieht hier mit der Freiheit? Wendel weist ihr nur noch ein Restrefugium innerer Stellungnahme (der Kritik oder der Affirmation) gegenüber einem Wollen und Handeln zu, das seinerseits durch das Begehren bestimmt ist. Damit hat Wendel Kants Freiheitsidee auf den Kopf gestellt. Die Vernunft ist entmachtet. Sie kann nicht mehr, wie Kant lehrt, für sich selbst praktisch sein. „Für sich selbst praktisch“ bedeutet bei Kant: ohne auf sinnliche Antriebe angewiesen zu sein. Bei Kant besitzt die Vernunft diese Fähigkeit aufgrund des Moralgesetzes, welches eben das Gesetz der Vernunft selbst ist. Und eben dadurch kann sie die Macht des Begehrens über den Willen brechen. Darin besteht ihre Autonomie.
Bei Wendel dagegen gerät diese Freiheit vollständig unter die Räder: Die materiale Freiheit wird durch die Kraft des Begehrens unterwandert, die transzendentale Freiheit ist ganz in die Innerlichkeit des Subjekts zurückgedrängt, hat keine Realität und keine das Handeln bestimmende Kraft. Von der Autonomie, die Kant so wichtig war, ist nichts mehr übrig geblieben. Aber dennoch verteidigt Wendel tapfer die „Freiheit“, und zwar gegen Gott und Kirche. Sie sieht sie bedroht durch jede Autorität, die uns erklären will, was Sinn und Ziel der Freiheit ist. Ein solches vorgegebenes Ziel lehnt Wendel ab. Sie will frei glauben, d. h. frei sein im Hervorbringen neuer Normen, Werte und religiöser Überzeugungen (142). Göttliche Wahrheitsansprüche sind dabei nur hinderlich. Vor allem gibt es keine „wahre“ Freiheit (etwa in Form ihrer Ausrichtung auf Gott), über die wir durch göttliche Offenbarung aufgeklärt werden könnten. Jeder soll selbst bestimmen, was für ihn wahr und gut ist. Wendel lehnt es ab, zu „den Vasallen eines göttlichen Herrn“ zu gehören, zu Untertanen eines allmächtigen Gottes, dem sie Gehorsam schuldet. Sie will Gott nicht auf den Knien, sondern „in aufrechter Haltung“ (143) „auf Augenhöhe begegnen“ (20). Spiegelt sich hier das Verhältnis deutscher kirchlicher Funktionäre gegenüber dem Heiligen Stuhl – nur eine Nummer größer? Was jene sich gegenüber Rom herausnehmen, nehmen sich Theologen wie Saskia Wendel gegenüber Gott heraus.
In seiner Ansprache vom 18. November an die deutschen Bischöfe im Rahmen des Ad-limina-Besuchs kam Kardinal Ouellet im Hinblick auf den Synodalen Weg auf eine theologische Agenda zu sprechen: „Es ist jedoch auffällig, dass die Agenda einer begrenzten Gruppe von Theologen von vor einigen Jahrzehnten plötzlich zum Mehrheitsvorschlag des deutschen Episkopats geworden ist: Abschaffung des Pflichtzölibats, Weihe von viri probati, Zugang von Frauen zum geweihten Amt, moralische Neubewertung der Homosexualität, strukturelle und funktionale Begrenzung hierarchischer Macht, von der Gender-Theorie inspirierte Überlegungen zur Sexualität, wichtige Änderungsvorschläge zum Katechismus der Katholischen Kirche usw.“
Angesichts der Thesen von Saskia Wendel könnte man dieser Aufzählung noch hinzufügen: Abschaffung der Autorität Gottes und der Verbindlichkeit seiner Offenbarung.
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