Von Abraham sagt die Bibel, dass er starb „in gesegnetem Alter, betagt und lebenssatt, und wurde zu seinen Vätern versammelt“ (Gen 25, 8). Das wird zur Formel, die bei Isaak und Jakob wiederkehrt. Immer besteht in diesen Geschichten vom höchsten Alter ein Zusammenhang mit Gottes Absichten. Das sind nicht bloße Beschreibungen, sondern erzählerisch gestaltete, als zwingend angenommene Gnadenerweise, Sinnerfüllungen für jene Männer von Abraham bis Moses, die das auserwählte Volk erst gezeugt und dann geführt haben. Die Bibel behauptet, dass es ein Leben gibt, das seine Möglichkeiten ausschöpft. Aber sie deutet diesen Gedanken zunächst als einen Vorrang, ein Vorrecht: „alt und lebenssatt“ sterben jene Männer, deren Wirken für das auserwählte Volk, seinen Bestand und sein Gedeihen, entscheidend wichtig war. Hohes, erfülltes Alter ist Gnade.
Ganz anders ist die Anschauung der Psalmen. Sie erzählen nicht einfach eine andere Geschichte, sondern reden aus einer anderen Perspektive. Nicht mehr wird über bestimmte Menschen berichtet, sondern Bitte und Klage ertönt aus dem Mund von Subjekten, die sich in Notlagen wie Krankheit und Todesgefahr befinden. Das Subjekt der Psalmen ist allein, es hat niemanden außer Gott, an den es sich wenden könnte: „Sogar mein Freund, auf den ich vertraute, / der mein Brot mit mir aß, er hat gegen mich die Ferse erhoben“, heißt es in Ps. 41, 10. Kein Trost ist da als bei Gott – so die Hauptlehre der Psalmen.
Mehr als Alter gilt ein Leben ohne Makel
Nicht immer kann die Bibel den Tod nach einem erfülltem Leben preisen; das verbietet der trockene Realismus, der den Stil des Alten Testaments prägt; es wäre verlogene Romantik. Manchmal redet die Bibel deshalb sachlich, pragmatisch. „Tod, wie gut ist deine Sendung“, sagt das Buch Jesus Sirach, „für einen Unglücklichen und den, dem die Kräfte schwinden, für den Alten, der verbraucht und von Sorgen geplagt ist, / der mürrisch geworden und die Geduld verloren hat!“ (Sir 41, 2) Selbst hier noch ein Lob!
Schließlich gibt es in einem der spätesten Bücher des Alten Testaments, das schon nicht mehr zu jüdischen Kanon gehört und auf Griechisch verfasst wurde – dem Buch der Weisheit – sogar eine positivere Sicht des frühen Todes, von denen das Patriarchenlob nichts ahnen ließen. Hier findet man Trost für die Angehörigen Frühverstorbener, da zum ersten Mal im Alten Testament von der Unsterblichkeit die Rede ist. Da liest man: „Der Gerechte aber wird, auch wenn er vorzeitig stirbt, / in Ruhe sein. Denn ein ehrenvolles Alter besteht nicht in einem langen Leben; / es wird nicht nach der Zahl der Jahre gemessen. Viel mehr gilt für die Menschen Einsicht als graues Haar / und mehr als Alter ein Leben ohne Makel. Da er Gott wohlgefällig war, wurde er von ihm geliebt, / und weil er mitten unter Sündern lebte, wurde er entrückt. Er wurde weggenommen, damit nicht die Bosheit seinen Sinn verkehrte, / und Arglist seine Seele verführte [...] Früh zur Vollendung gereift, hat er lange Zeit gelebt. / Denn der Herr hatte an seiner Seele Wohlgefallen, / darum eilte sie aus der Mitte der Gottlosigkeit hinweg.“ (Weish 4, 7 – 14)
Die Bedeutung des innerlichen Lebens ist gewachsen, die Dauer des Lebens wird von seiner Gottgefälligkeit abgekoppelt; es besteht nicht mehr die archaische Gleichung eines gottgefälligen Lebens und lebenssattem Sterben im höchsten Alter. Die Welt hat sich differenziert. Aber wo immer man die Bibel befragt: Die Idee eines zur Unzeit gekommenen, fundamental ungerechten Todes ist ihr, wenn es sich nicht um Mord handelt, eigentlich fremd. Das ist der tiefere Sinn des Gottvertrauens.
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