Den 17. März 2023 dürften sich viele U2-Fans schon seit Monaten rot im Kalender markiert haben - denn dann endlich erscheint nach dem bisher letzten Album „Songs of Experience“ von 2017 und damit sechs Jahren der Wartezeit, ein neues Album von der irischen Rockband U2. Da die Band um Superstar und Frontmann Bono in der Regel nur alle vier bis fünf Jahre ein neues Album herausbringt, ist die Vorfreude auf das neue Opus immens groß. Aber so ganz neu sind die Songs auf dem neuen Album „Songs Of Surrender“ (Lieder über Hingabe) eigentlich nicht. Denn die Band hat „lediglich“ 40 ihrer größten Hits und für sie wichtigsten Songs neu interpretiert und eingespielt. „Songs of Surrender“ führt durch mittlerweile 45 Jahre Bandgeschichte, auf die U2 unverändert in ein und der gleichen Besetzung (Sänger Bono Vox, Drummer Larry Mullen Jr., Bassist Adam Clayton und Gitarrist The Edge) dieses Jahr zurückblicken können.
Bonos „Pilgerreise“
Dabei stehen Bonos unvergleichliche Stimme und The Edge s virtuoses Gitarrenspiel wie immer im Fokus ihres musikalischen Schaffens. Natürlich dürfen Hits wie „Sunday, bloody Sunday“, „One“, „I still haven t found what I m looking for“, „With Or Without You“ und „Pride“ nicht fehlen. Der Titel des Albums spielt dabei auf Bonos Autobiographie „Surrender 40 Songs, eine Geschichte“ an, die im November 2022 erschienen ist und die nun die musikalische Ergänzung zum seinem Buch darstellt. Doch Bono wäre nicht Bono und U2 wären nicht U2, wenn der Titel nicht noch vielschichtiger wäre, so wie ihre Songs sich stets einer einfachen Interpretation verweigern.
“40 Songs“ bezieht sich auf die 40 Kapitel des Buches, die jeweils mit dem Titel eines U2-Songs überschrieben sind und alle für sich als Kurzgeschichte gelesen werden können. Andererseits heißt „40“ auch einer ihrer Songs, der wiederum eine Vertonung von Psalm 40 ist, mit dem sie jedes ihrer Konzerte, als Bekenntnis zu ihrem christlichen Glauben und ihrer Liebe zur Poesie der Bibel, beenden. Gleichzeitig steht die „40“ für die vier Jahrzehnte, in denen Bono, der 1960 als Paul David Hewson in Dublin geboren wurde, schon mit seiner Jugendliebe Ali Hewson kirchlich verheiratet ist, was für einen Rockstar heutzutage schon etwas sehr Besonderes ist. Sein Buch ist vor allem auch ihr und ihrer gemeinsamen Zeit, die alle Stürme bisher überstanden hat, gewidmet. Außerdem verweist die „40“ auch noch auf ein Jubiläum der Band, denn 1983 kam ihr drittes Album „WAR“ heraus und bescherte U2 ihr erstes Nr. 1-Album und damit den großen Durchbruch mit Klassikern wie „Sunday Bloody Sunday“, „New Year s Day“ und eben „40“.
Bonos Buch „Surrender“, an dem er sieben Jahre lang geschrieben hat er fing an es zu schreiben, nachdem er sich einer schweren Herz-OP unterziehen musste und sein Leben nochmal Revue passieren ließ , ist ein literarisches Werk in der Tradition der großen irischen Geschichten-Erzähler geworden. Alle 40 Kapitel werden von Illustrationen eingeleitet, die Bono selbst gezeichnet hat. Zudem hat es mit 696 Seiten fast schon biblische Ausmaße. Bono hat vieles über seine „Pilgerreise“, wie er sein Leben nennt, zu berichten. Seine Biographie ist eine sehr faszinierende, detailreiche Geschichte um Geschichten über seine Familie, über viele wichtige Begegnungen mit Menschen, die ihn geprägt haben, über Musik und Politik, über Religion, Glaube und die Bibel, sowie auch sein Leben als Künstler, Musiker, Sänger, Rock-Messias, Poet, Rebell, Gutmensch, Idealist, Pragmatiker, Gottsucher, Jesus-Jünger, Vater, Sohn, Ehemann, Frontmann, Firmengründer und Eine-Welt- und Umwelt-Aktivist.
Treffen mit Papst Johannes Paul II.
Denn Bono ist eben nicht nur der Front-Mann von einer der bekanntesten Bands der Welt, sondern mindestens ebenso bekannt, verehrt und gefürchtet als streitbarer und wegweisender Aktivist und ein Mensch mit vielen Dualismen und Facetten. Nach seinem Einsatz für die Jubilee 2000 Schuldenerlass-Kampagne wandte er sich dem Kampf gegen Aids in Afrika und gegen die Armut in der Welt zu. Er ist Mitbegründer der Organisationen ONE und (RED), die sich für globale Gleichheit und Gerechtigkeit einsetzen, sowie des 2016 gegründeten The Rise Fund, einem internationalen Impact Fonds, der in soziale und ökologisch nachhaltige Unternehmen investiert.
Seine Biographie ist aber auch auf jeden Fall lesenswert für Menschen, die keine Fans von U2 oder des irischen Rockmusikers sind. Denn sein Buch ist auch ein Stück historisches und politisches Zeitdokument, das zahlreiche Schlaglichter auf die globalen Entwicklungen in den letzten 60 Jahren wirft: Nordirland-Konflikt, Fall des Eisernen Vorhangs, die USA-Politik in Zentralamerika, der Fall des Apartheidsystems in Südafrika.
Neben dem großen Weltgeschehen berichtet Bono aber auch in zahlreichen Anekdoten von vielen Musikerkollegen, mit denen er zusammengearbeitet hat und die ihm zu Freunden wurden: Bob Dylan, Paul McCartney, Johnny Cash, Frank Sinatra und Patti Smith. Auch seine Treffen mit geistlichen Oberhäuptern wie Papst Johannes Paul II. oder Erzbischof Desmond Tutu und weltlichen Anführern von George H.W. Bush bis Barack Obama, nehmen viel Platz und Reflexion ein.
Vor allem erzählt Bono aber sehr ausführlich von seiner Kindheit und Jugend in Dublin, vom plötzlichen Tod seiner Mutter, die er mit 14 Jahren verlor, von U2s unglaublichem Aufstieg von einer Schüler-Punkband, die Bono und seine drei Freunde 1978 als Teenager, mit religiösem Hintergrund in der Shalom-Gemeinde Dublins gründeten, hin zu einer der einflussreichsten Rock-Bands der Welt. Die Anfänge waren dabei nicht einfach und gingen mit Konflikten einher. Bono schreibt, dass die Band vor 40 Jahren am Scheideweg stand und fast wegen ihres Glaubens auseinander gebrochen wäre: „Die Frage stand im Raum, ob wir eine Rock-Band und trotzdem gläubig sein können. Letztlich reifte aber die Erkenntnis heran: Wir können Gott besser dienen, wenn wir mit unserer Band erfolgreich waren und den Menschen hier auf der Erde helfen konnten. Die Weisung der Bibel ,In der Welt, aber nicht von dieser Welt zu sein , stellte sich als unsere Lebensaufgabe heraus, die es zu erfüllen gilt.Die Band war wie ein auf Sand gebautes Haus, nicht wie eine aus Stein erbaute Kirche, ein Haus, das unter der Spannung zwischen dem Glauben und der Kunst manchmal auch einzustürzen drohte.“
Geschichte eines Pilgers, der nicht wirklich vorankommt
Mit viel Sehnsucht und Hoffnung im Herzen, aufrichtig, offen, tiefsinnig, humorvoll, selbstkritisch und auch selbstironisch gibt Bono einen sehr tiefen Einblick in sein (Seelen)Leben und lässt die Leser teilhaben wie seine Familie, seine Freunde, seine Band, seine Musik und sein Glaube ihn stützen, herausfordern und prägen. Er selbst sagt: „Als ich begann, dieses Buch zu schreiben, hoffte ich, genauer aufzeichnen zu können, was ich bisher in meinen Songs nur skizziert habe. Die Menschen, Orte und Chancen in meinem Leben. Das Wort ,Hingabe hat für mich große Bedeutung. Denn sie war mir nicht in die Wiege gelegt, als ich in den 70ern in Irland mit musikalisch gesprochen erhobenen Fäusten aufgewachsen bin. Es ist ein Wort, das ich nur umkreiste, als ich anfing, mir erste Gedanken über das Buch zu machen. Ich mühe mich immer noch ab, diese Demut lehrende Eigenschaft zu meistern in der Band, in meiner Ehe, in meinem Glauben, in meinem Leben als Aktivist. Surrender ist die Geschichte eines Pilgers, der nicht so recht vorankommt ... mit einer Menge Spaß dabei.“ Die „Hingabe“ als Lebensthema, in Anlehnung an Jesu Worte im Garten Gethsemane „Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Lukas 22,42), ist der rote Faden, der sich durch das gesamte Buch zieht und in jedem Kapitel mit einer anderen Facette auftaucht.
In der „Hingabe“ spiegelt sich für Bono das spirituelle Konzept des Loslassens, des Sterbens und Auferstehens sowie des Sich-Hingebens in den Fluss des Lebens und letztlich in die Hände Gottes. Des Gottes, der für ihn als Freund, Wegbegleiter und Erlöser gegenwärtig wurde in Jesus Christus und der außerdem gegenwärtig ist in der als Tätigkeit gelebten Liebe zwischen Menschen und in der Art, wie wir Menschen unserer Welt begegnen.
Bono, der aus einem konfessionsverbindendem Elternhaus stammt, ist ein gläubiger Christ, der aber aufgrund von diversen Erfahrungen organisierten Religionen gegenüber kritisch steht und der sich selbst mehr als Sünder, denn als Heiligen ansieht. Das Ringen mit Gott, den inneren Dämonen und den eigenen Sünden, das Zweifeln, Klagen und Fragen, sind ihm nicht fremd, sondern sein täglicher Begleiter. Genauso wie es seine Liebe zu Kirchen und Kapellen ist, zu der Liturgie und vor allem zu der Bibel, die ihm Weisung und Orientierung gibt und ihn als Songschreiber von Anfang an begleitet und inspiriert, auf seiner Pilgerreise auf dem Weg nach Hause.
Danke an den unsterblichen Unsichtbaren
Viele U2-Songs sind sehr politisch und viele sind auch voller spiritueller Sehnsucht nach Gott, Liebe und Erlösung. Bono selbst schreibt: „Wir beten als Band vor jedem Auftritt miteinander. Auf eine seltsam vertraute Weise verändert uns das Beten. Wir beginnen unsere Gebete als Kameraden, wir beenden sie als Freunde, mit einem neuen Bild von uns selbst und auch von unserem Publikum. Das ist das, was uns ausmacht und warum wir als Band immer noch zusammen sind. Meine Songs sind meine Gebete und Freundschaft eine Art Sakrament für mich, wo Gott ganz konkret gegenwärtig ist.
Das Faszinierende und gleichzeitig Berührende an Bonos Buch ist, neben dem Teilen seiner Glaubenserfahrungen und Überzeugungen, die Nahbarkeit und Verletzlichkeit, in der der Star sich selbst schonungslos offenbart und der Welt zeigt. Der 62-Jährige ist tief in seiner Seele noch immer ein kleiner Junge aus Dublin, dessen Mutter viel zu früh starb. Der erwachsen wurde mit einer Partnerin an seiner Seite, die er mit 14 Jahren in der Schule kennenlernte, die seine Berufung, ein spirituelles Leben zu führen und die Welt besser zu machen, mit ihm teilt und mit ihm eine sechsköpfige Familie gegründet hat. Am Ende schließt Bono seine Autobiographie ab, sowie er jedes U2-Konzert beendet, mit dem Psalm 40 und einer Danksagung an Gott und zwar auf die ihm sehr eigene Art und Weise: „Danke an den unsterblichen Unsichtbaren für die Erlaubnis, aus vielen verschiedenen Versionen deines heiligen Buches zu zitieren.“
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