HAYERS HORIZONTE

Traum oder Träumerei?

In Heidelberg lernt man derzeit: Europa bedeutet vor allem ein gemeinsames Erinnern.
Europafahnen vor dem Sitz der Europäischen Kommission in Brüssel
Foto: IMAGO/Rolf Poss (www.imago-images.de) | Europas Entwicklung war immer schon eine von Krieg, Gewalt und Traumata gezeichnete. Man kann dieses Narrativ schon im antiken Kontinentmythos sehen, indem Europa selbst, entführt und vergewaltigt wurde.

Was man unter Europa versteht, war viele Jahre eine Ansammlung von bedeutsamen Begriffen, die mit der Zeit allerdings floskelhaften Charakter annahmen. Der beliebteste Renner lautete Pluralität, der natürlich in jeder Sonntagsrede vorkommen musste und sogar im Lissabonner Vertrag mit dem Slogan „In Vielfalt geeint“ seinen Platz fand. Doch was nun im Konkreten diesen Staatenbund beschreibt, stand nicht nur aufgrund der Rechtsstaatlichkeitsverfahren der Kommission gegen Ungarn und Polen, immer wieder zur Debatte. Nun spüren wir es erstmals auf manifeste Weise nach dem Zweiten Weltkrieg, weil ein neuer gewaltsamer Konflikt vor den Grenzen tobt. Wie lange nicht mehr, spricht man derzeit mit einer Stimme. Sie macht deutlich, woher wir kommen und was uns geprägt hat.

Europas Entwicklung durch Krieg, Gewalt und Traumata

Auch aus diesem Grund versteht sich der kontinentale Zusammenschluss als Resultat eines geteilten Gedächtnisraums. Europa ist kein monolithischer Block in den Köpfen der Menschen. Europa ist ganz persönliche Erfahrung, ist Narration. Dies veranschaulicht auch eine Opern-Uraufführung am Theater und Orchester Heidelberg. Initiiert durch den Verein „Arbeit an Europa“, dem mitunter die Autoren Simon Strauß und Nora Bossong angehören, versammelt das Stück Texte aus drei von über 2.000 Interviews. Den Anfang macht die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, die von ihren düsteren Erfahrungen in Russland berichtet. Was darauf mit dem Werk aus der Feder der 1931 geborenen Autorin Elisa Montessori folgt, erweist sich als nicht minder traurig, handelt es doch mithin vom schwierigen Aufwachsen in der Zeit des italienischen Faschismus.

Verbildlicht werden diese Geschichten durch eine ingeniöse Kulisse. Um das Orchester herum – fabelhaft und hochkonzentriert dirigiert von Dietger Holm – befindet sich ein beiger Rahmen. Darauf stehen verschiedene Kisten, denen die Darsteller (etwa Joslyn Rechter, Lars Conrad, Theresa Immerz, Ks. Winfrid Mikus) Fotografien und Bücher entnehmen. Würden die daran gekoppelten Erinnerungen doch nur wieder real werden! Doch die durchweg dissonante und disharmonische Musik macht deutlich: Europas Entwicklung war immer schon eine von Krieg, Gewalt und Traumata gezeichnete. Angelegt kann man dieses Narrativ schon im antiken Kontinentmythos sehen, das als drittes, letztes und bestes Stück (Libretto: Emanuel Maeß, Komposition: Ferran Cruixent) den Abend abrundet. Nun berichtet Europa selbst, wie sie zwischen Begehren und Irrtum von Zeus, verzaubert als Stier, entführt und vergewaltigt wurde. Scheint also alles Ungute darin seinen Ursprung zu haben?

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Gleitend gehen diese drei einzelnen Episoden ineinander über, ohne aufwendiges Wechselgeschehen auf der Bühne. Vielleicht weil eben auch Europa immer im Wandel begriffen ist, vielleicht weil sich dessen Vielstimmigkeit, die sich auch im Farbenreichtum der Sänger manifestiert, eben nicht auf einen Nenner bringen ist. Klar ist nur: Hier verdichten sich Vergangenheitserfahrungen und das damit verbundene, ja sehr europäische Plädoyer auf die Notwendigkeit, aus der Geschichte die richtigen Lehren zu ziehen. Dieser Abend hat also Wucht und zeigt, dass der Traum von Europa bislang allzu oft leider nur auf einer Träumerei beruhte.

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Björn Hayer Vergewaltigung Zweiter Weltkrieg (1939-1945)

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