Erinnerungskultur

„Projekt Stolpersteine“: Namen niemals vergessen

„Projekt Stolpersteine“: Die große Mehrheit der Steine erinnert an jüdische Menschen. Doch auch zahlreiche Steine für katholische Märtyrer unter dem Hakenkreuz wurden verlegt .
Stolpersteine
Foto: hoens | „Wenn wir Besucher oder Gruppen bei uns haben, beginne ich meine Ausführungen vor dem Eingang zu Kirche, wo der Stein für die heilige Edith eingelassen ist.“ Der Stolperstein beginnt mit „Hier betete...“.

Tot an Haftfolgen 18.2.1941“. Was musste Kaplan Everhard Josef Richarz für Grausamkeiten ertragen, ehe er im Gefängnis Berlin-Moabit zugrundeging? Die Frage stellt sich auch bei Bernhard Lichtenberg: „Tot auf Transport nach Dachau 5.11.1943.“ Ein weiteres Opfer der Verfolgungen in der Zeit des Nationalsozialismus ist Schwester Aloysia Löwenfels: „Ermordet 9.8.1942 Auschwitz“. Heinrich Imbusch von der „Christlichen Gewerkschaft“ starb eines natürlichen Todes: „Versteckt gelebt tot 16.1.1945.“ Pfarrer Josef Johann Jakob Adams kam 1943 nach Dachau, doch überstand er das Konzentrationslager: „Befreit / Überlebt.“

Nur einige wenige Beispiele für Hunderte von Christen

Neben dem Geburts- und Todesdatum sind es knappe biografische Hinweise, etwa zu den Umständen des Todes, die auf den sogenannten Stolpersteinen zu lesen sind. Bei dem aus Mondorf stammenden Geistlichen Richarz erfahren die Betrachter des Stolpersteins vor dem Haus Oberste Gasse 19, dass der 1904 geborene Kaplan hier gewohnt hat und 1939 verhaftet worden ist. Über Schwester Aloysia, deren Stolperstein in Trabelsdorf vor ihrem Geburtshaus liegt, ist zu erfahren, dass ihr ursprünglicher Vorname Luise war, sie der Ordensgemeinschaft Arme Dienstmägde Jesu Christi angehörte, nach Holland flüchtete und im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurde. Für Bernhard Lichtenberg heißt es in Berlin, dass er im „Christlichen Widerstand“ gewesen ist und wegen „Kanzelmissbrauch“ 1941 verhaftet sowie ins Gefängnis Tegel gebracht wurde und auf dem Transport in das Konzentrationslager Dachau starb.

Über den 1878 geborenen Heinrich Imbusch vor dessen ehemaligem Haus in Essen-Frintrop ist zu lesen, dass er „Im Widerstand“ gewesen ist, aktiv für die „Christliche Gewerkschaft“ war, bereits 1933 fliehen musste, ehe er 1942 zurückkehrte. An den 1902 geborenen Pfarrer Adams, der Dachau überlebt hat, erinnert in Bürstadt der Stolperstein in der St.-Georgs-Straße und nennt „Kritische Äusserungen“ als Verhaftungsgrund. Die aufgeführten Namen sind nur einige wenige Beispiele für Hunderte von christlich respektive katholisch geprägten Personen, die in der Zeit des Nationalsozialismus wegen ihres Glaubens und ihrer religiösen Überzeugungen verfolgt, inhaftiert, gefoltert, getötet wurden oder leiden mussten und doch überlebt haben.

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„Ein sichtbares, individuelles Zeichen gegen das Vergessen“

„Es geht darum, die Menschen zu ehren, die Opfer geworden sind“, sagt Gunter Demnig und fügt hinzu: „Jeder Stolperstein ist ein sichtbares, individuelles Zeichen gegen das Vergessen.“ Seit Anfang der 1990er-Jahre verlegt der 75 Jahre alte Künstler die Stolpersteine. Mittlerweile sind es in fast 30 Ländern rund 90 000 dieser kleinen Denkmale. Die große Mehrheit der Steine erinnert an jüdische Menschen. Doch auch zahlreiche Steine für katholische Märtyrer unter dem Hakenkreuz wurden verlegt.

Beispiel Köln: Rund 2 500 dieser Steine sind auf den Gehwegen der Domstadt mittlerweile eingelassen. Vor wenigen Wochen erst war Demnig wieder in der Rheinmetropole, um Erinnerungssteine zu verlegen. So für die jüdischen Hausbesitzer Else und Isidor Hermanns, die in der 1930er-Jahren enteignet und vertrieben wurden. Ihr Gebäude wurde im Zuge der Arisierung an nichtjüdische Personen übertragen. Auch Konrad Adenauer, Vorsitzender des Vorstandes des Kölner Haus- und Grundbesitzervereins und Enkel des ersten deutschen Bundeskanzlers, war bei der Verlegung anwesend.

Zudem verlegte der Künstler auf Initiative des jüdischen Karnevalsvereins „Kölsche Kippa Köpp“ einen Stolperstein für den jüdischen Karnevalisten und 1939 emigrierten Edmund Nathan im Stadtteil Sülz. Nur eine Viertelstunde zu Fuß weiter liegt vor dem kürzlich aufgegebenen Dominikanerkloster Heilig Kreuz der Stolperstein für Norbert Maria Kubiak. Der Mönch, Jahrgang 1892, wurde „Deportiert Sachsenhausen ermordet 20.4.1942.“

Vor dem Karmelitinnenkloster Maria vom Frieden liegt ein Stein, der mit den Worten beginnt „Hier betete Edith Stein“ und mit der Zeile endet „Ermordet 9.8.1942 Auschwitz“. Der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, der 27. Januar 1945, ist seit 2005 Internationaler Tag des Gedenkens für die Opfer des Holocaust. Teresia Benedicta a Cruce, so der Ordensname von Edith Stein, wurde zusammen mit der eingangs erwähnten Schwester Aloysia ermordet. Beide Ordensfrauen waren vom Judentum zum Katholizismus konvertiert, und beide sind wohl auch mit dem selben Zug von Holland in das Vernichtungslager in Schlesien deportiert worden. Dies erfährt aber erst, wer tatsächlich über einen Stein stolpert und sich beim Lesen sozusagen vor dem Opfer verbeugt. Nur über einen Stolperstein lässt sich beispielsweise nicht erfahren, dass Bernhard Lichtenberg Dompropst an der Hedwigskathedrale in Berlin gewesen ist und 1996 selig gesprochen wurde.

Wer sich näher mit Heinrich Imbusch befasst, erfährt, dass er als Zentrumspolitiker Abgeordneter der Weimarer Nationalversammlung sowie des Reichstags gewesen ist. Dass Edith Stein eine Tochter aus jüdisch-orthodoxer Familie war, 1998 bei ihrer Heiligsprechung durch Papst Johannes Paul II. auch zur Patronin Europas erhoben wurde und sich das nach der Philosophin benannte Archiv neben dem Kölner Karmel befindet, kann für Interessierte erst durch Recherchen erfahren werden.

Ein Argument für Kritiker

Die wenigen Angaben auf dem jeweiligen Stolperstein sind ein Argument für Kritiker des Projekts: Die Steine würden nur Fakten benennen und hätten keinerlei Botschaft. Zudem würde auf die Opfer ein zweites Mal getreten. Dem hält Demnig entgegen, dass er die Namen der Opfer zurück an die Orte ihres Lebens bringen wolle. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert er einen Satz aus dem Talmud. Seine Ehefrau Katja ergänzt: „Jedes Schicksal bewegt und soll bewegen, die Verlegungen sind keine Routine.“ Das Kölner NS-Dokumentationszentrum kommentiert: „Damit wird individuell an Verfolgte erinnert, aber es werden auch Fragen nach der Täter- und Mittäterschaft aufgeworfen, indem der Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Verfolgung an den ehemaligen Wohnorten deutlich markiert wird.“ Inzwischen gibt es dezentral viele Initiativen, die weiterführende Informationen über Personen, denen ein Stolperstein gewidmet ist, bündeln. Denn eine zentrale Datenbank befindet sich aktuell noch im Aufbau.

Verlegt werden Steine meist exakt am letzten bekannten Wohnort der jeweiligen Person. Pro Monat werden etwa 700 Steine hergestellt und verlegt. Auf einem Stein befindet sich eine 96 mal 96 Millimeter große quadratische Messingtafel mit abgerundeten Ecken und Kanten. Die Tafel wird von Hand mittels Hammer und Schlagbuchstaben mit eingeschlagenen Lettern beschriftet. Die Messingplatte wird dann mit Beton hintergossen, um sie fest mit dem Betonstein zu verbinden. Zehn Zentimeter unter die Kante eines Gehwegs reicht jeder Stein, der ein individuelles Schicksal memoriert.

Ein bekanntes Projekt der deutschen Gedenkkultur

Den Text bestimmt Demnig, sobald ihm alle Informationen vorliegen. „Die Grundidee ist, dass überall dort, wo Gestapo und Wehrmacht ihr Unwesen getrieben und gemordet haben, Steine liegen sollen.“ Entscheiden ist aber: Die Initiative für die Verlegung muss aus den Kommunen kommen, ebenso die Übernahme von Patenschaften und Kosten für die Verlegung. „Ein Stolperstein ist ein Geschenk von Bürgern an ihre Kommune“, betont Katja Demnig. Sie und ein Team von elf Personen koordinieren, organisieren und dokumentieren die Anfragen und Verlegungen.

Gunter Demnig ist der Initiator des Projekts. 1992 verlegte er zur Erinnerung an die 1000 aus Köln deportierten Sinti und Roma vor dem Historischen Rathaus den ersten Stolperstein. Dass sich das Kunstprojekt zu einem bekanntesten Projekte der deutschen und europäischen Gedenkkultur entwickeln sollte und heute als weltweit umfangreichstes dezentrales Mahnmal gilt, hätte er niemals für möglich gehalten. Immer wieder komme es bei Verlegungen zu bewegenden Begegnungen. Einmal hätten ihm die Nachfahren eines ermordeten Juden bei der Verlegung unter Tränen gesagt: „Jetzt kann ich nach Hause fahren und immer wieder nach Deutschland zurückkehren.“

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Der Stolperstein wird dann zum Schlussstein, „auch wenn das individuelle Schicksal längst nicht beendet ist“, bemerkt Gunter Demnig. Dieser Aussage schließt sich Schwester Ancilla vom Karmelitinnenkloster in Köln mit dem Hinweis an: „Wenn wir Besucher oder Gruppen bei uns haben, beginne ich meine Ausführungen vor dem Eingang zu Kirche, wo der Stein für die heilige Edith eingelassen ist.“ Besonders froh ist die Ordensschwester über den Text auf dem Stolperstein, der mit „Hier betete“ beginnt und auf die vielleicht wichtigste und zeitlos aktuelle Botschaft der Heiligen verweist, denn: „Gibt es etwas Wichtigeres, als für den Frieden zwischen den Menschen in der Welt und in unserem Alltag zu beten?“

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