Alles war neu für mich im Sommersemester 1961: Das selbstständige Studentendasein unter einer Dachschräge draußen in Buschdorf, erste Orientierungsversuche in den riesigen Räumen eines zu akademischen Zwecken umgewidmeten Barockschlosses, das pulsierende Leben in den Fluren und die überfüllten Hörsäle, das einschüchternde Treiben vor den Eingängen der Seminare und die ersten, noch versuchsweise eingesammelten Eindrücke vom Verbindungsleben. Ich war jetzt „stud. phil. et theol.“ und machte mich eifrig daran, meinen ersten eigenen Stundenplan zusammenzustellen.
Überraschende, manchmal verblüffende Gedankenbewegungen
Ein mir unbekannter Name wurde von älteren Semestern nachdrücklich zum „Belegen“ empfohlen: Joseph Ratzinger. Der Titel seiner Vorlesung schreckte mich allerdings ab: „Fundamentaltheologie I – Gottes Offenbarung in Jesus Christus“. Das klang einengend und dogmatisch. Andererseits erschien es mir passend, als Studienanfänger erst einmal theologische „Fundamente“ unter die Füße zu bekommen. Also ging ich hin. Doch was die kleine Gestalt in dezenter Priesterkleidung da vorn am Katheder des Hörsaals VIII mit auffallend heller Stimme und angenehmem bayerisch-österreichischen Akzent vortrug, konnte mich anfangs gar nicht zufriedenstellen.
Meistens verstand ich nur „Bahnhof“ und bestenfalls „Ekklesiologie“, und das war für mich ungefähr dasselbe. Allmählich aber lichtete sich der Nebel im Kopf des theologischen Greenhorns und hervor traten die Konturen eines faszinierenden geistigen Abenteuers. Hier ließ uns jemand teilhaben an einer in sich logischen und dennoch überraschenden, manchmal verblüffenden Gedankenbewegung, wobei der Vortragende ebenso bescheiden wie souverän aus der Fülle seines immensen theologischen, philosophischen und geistesgeschichtlichen Wissens schöpfte.
Häufig war der Blick des jungen Professors mit dem gescheiten, blassen Gesicht auf einen unsichtbaren gegenüberliegenden Horizont gerichtet, so, als entdecke er dort seine Gedanken und Formulierungen, um sie dann in freier Rede, variierend und verdeutlichend, in schönen sprachlichen Bildern den Hörern verständlich und plausibel zu machen.
Ein meisterhafter Dialektiker
Ratzinger beherrschte meisterhaft die dialektische Methode des Erkennens und Darlegens. Ich möchte versuchen, das an einem – notwendigerweise verkürzten – Beispiel aufzuzeigen.
Erstens, die These: Die Menschen sind nicht in der Lage, in all ihrer Klugheit den verborgenen Gott zu erkennen. Jede menschliche Annäherung an ihn, alles menschliche Tun geht letztlich in die Irre (1 Kor 1,19-28ff, mit Bezug auf entsprechende Stellen im AT). Die protestantische „Dialektische Theologie“ mit Karl Barth und Rudolf Bultmann hat dies in scharfer Abgrenzung zur vorausgegangenen „Liberalen Theologie“ und zur traditionellen katholischen Position einer „natürlichen Theologie“ überzeugend herausgearbeitet. Gott hat unser menschliches Denken buchstäblich „durchkreuzt“ (1Kor 1,23).
Zweitens, die Antithese: Gott offenbart sich allen Menschen in den Werken seiner Schöpfung (so die alttestamentliche Weisheitsliteratur und Paulus auf dem Areopag; Apg 17). In diesem Sinne hat das Erste Vatikanische Konzil – in einer notwendigen Gegenbewegung gegen den modernen Skeptizismus – klipp und klar die Erkennbarkeit Gottes postuliert.
Drittens, die Synthese, zugleich die – jetzt unverkürzte! – katholische Position: Gott ist und bleibt Geheimnis, „mysterium stricte dictum“, aber wir sind – dank unserer Gott-Ebenbildlichkeit und der Menschwerdung Gottes (Inkarnation) – befähigt worden, uns auf ihn hin zu öffnen, und so kann sein verborgener göttlicher Glanz in unserem Verstehen und Tun aufleuchten. „Oder anders gewendet, mit einem auf Aristoteles zurückgehenden Goethe-Wort, auf das mich Kollege Alewyn hingewiesen hat (Richard Alewyn war ein namhafter Bonner Germanistik-Professor, mit dem Ratzinger in einem Haus in Godesberg wohnte): ,Wär´ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt´ es nicht erkennen?“
Eine wissende und einfühlsame Weite
Diese Beobachtungen finden eine interessante Ergänzung in Papst Ratzingers Regensburger Vorlesung von 2006. Er sagte dort einleitend zur Atmosphäre an der Bonner Universität: „Es war – 1959 – noch die Zeit der alten Ordinarien-Universität ... Die Universität war auch durchaus stolz auf ihre beiden Theologischen Fakultäten. Es war klar, dass auch sie, indem sie nach der Vernunft des Glaubens fragen, eine Arbeit tun, die notwendig zum Ganzen der ,Universitas scientiarum?gehört, auch wenn nicht alle den Glauben teilen konnten, um dessen Zuordnung zur gemeinsamen Vernunft sich die Theologen mühen. Dieser innere Zusammenhalt im Kosmos der Vernunft wurde auch nicht gestört, als einmal verlautete, einer der Kollegen habe geäußert, an unserer Universität gebe es etwas Merkwürdiges: zwei Fakultäten, die sich mit etwas befassten, was es gar nicht gebe – mit Gott. Dass es auch solch radikaler Skepsis gegenüber notwendig und vernünftig bleibt, mit der Vernunft nach Gott zu fragen und es im Zusammenhang der Überlieferung des christlichen Glaubens zu tun, war im Ganzen der Universität unbestritten.“
Hier lässt sich beispielhaft deutlich machen, was der tiefgläubige Priester-Professor aus Bayern seinen Bonner Studierenden vermitteln konnte – und er hatte in zunehmendem Maße zahlreiche Hörerinnen und Hörer aus allen Fakultäten: Typisch für das Wesen des Katholischen ist eine – letztlich auf anbetender Grundhaltung beruhende – wissende und einfühlsame Weite im Denken und im Verstehen, die in der Lage ist, widersprüchliche Positionen „aufzuheben“, und das heißt mit Hegel: zugleich aufzugreifen, in ihrer Einseitigkeit zu überwinden und auf höherer Ebene aufzubewahren.
Der junge Ratzinger hatte die wunderbare Fähigkeit, Fragende und Zweifelnde auf seinem intellektuell anspruchsvollen Weg mitzunehmen und ihnen so den Katholizismus plausibel zu machen: Originalton Ratzinger: „Gratia non destruit, sed praesupponit et perficit naturam“, das heißt: Der Glaube bekämpft und zerstört nicht die vorfindlichen Strukturen der Welt, sondern er setzt sie voraus und vollendet sie.
Ein theologischer Frühling über den Bonner Kollegien
Als Hörer und Schüler Ratzingers gewann man das befreiende Gefühl, dass es auch in der modernen Welt Freude bereitet, ein katholischer Christ zu sein! Natürlich blieben einem klugen Kopf wie ihm nicht die Rückstände und Widerstände des real existierenden Katholizismus verborgen. Ein ironisches Lächeln spielte auf seinem Gesicht, als er den 1908 exkommunizierten großen Gelehrten Alfred Loisy (auf Französisch) zitierte: „Jesus Christus kündigte das Reich Gottes an – und was kam, war die Kirche“, oder wenn er mit etwas despektierlichem Unterton von „den Bischöfen“ sprach. Gelegentlich munkelte man, er habe eine schon ausgearbeitete neue Dogmatik in der Schublade liegen, für die die Zeit noch nicht reif sei.
Es ist kein Zufall, dass ihn nach wenigen Semestern seine Widersacher in der katholisch-theologischen Fakultät (Karl-Theodor Schäfer mit dem Bratenrock, Gerhard Botterweck mit der Minoxkamera und andere mehr) aus der Bonner Alma Mater vergrault haben. Ratzinger hat seine Bonner Zeit dennoch rückblickend als die schönste, vielleicht „lustvollste“ seiner ganzen akademischen Laufbahn beschrieben. Ja – es lag wirklich die Stimmung eines theologischen Frühlings über jenen Bonner Kollegien! Aufgrund meiner Bonner Erfahrungen konnte ich später als Religionslehrer die wachsende Kritik an ihm, ja Erbitterung über seine Person nie ganz nachvollziehen. Dafür waren das Gefühl des Beschenktseins und die persönliche Überzeugung von seiner menschlichen Integrität zu groß. Irgendwie fragwürdig erschien mir allerdings schon damals eine typische Eigenart von Ratzingers Theologie: Ließ sich wirklich jedes theologische Problem – und damit verbunden: eine letzte, tiefste Unsicherheit am Grunde des Lebens und des Glaubens – stets auf eine so befreiend schlüssige Weise zur Lösung bringen?
Aber vielleicht war diese optimistische Grundhaltung eine notwendige Voraussetzung für sein künftiges Petrusamt, das er so wunderbar in seinen Bonner Jahren antizipiert hat – gemäß dem von ihm zitierten und interpretierten Jesus-Wort (Lk 22,32): „Simon, ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht wanke. [...] Du aber stärke deine Brüder!“
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