Rituale haben etwas Magisches oder Gnadenvolles. Sie geben Menschen einen besonderen Halt und verleihen Kräfte, wie der französische Soziologe Émile Durkheim in seinem Klassiker „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausarbeitete. Durkheim untersuchte auf Grundlage vorhandener ethnologischer Studien die Rituale eines bestimmten australischen Stammes, der Arunta, doch seine Schlüsse lassen sich auf alle Religionen übertragen.
Demnach existieren fünf grundlegende Rituale: Tabu- und Vermeidungsriten, Opferriten, Imitationsriten, Darstellungs- und Gedenkriten, Buß- und Sühneriten, die eng an die Dogmen und Erzählungen einer Religion gekoppelt sind. Diese Riten können auch eng einhergehen mit den Festtagen einer Religion. Häufig sogar als Gesamtpaket.
Das christliche Weihnachten ist auch eine Initiation
So ist das christliche Weihnachten nicht nur ein Gedenkritus, der die Gläubigen zum Ende des Kalenderjahres mit der Geburt des als „göttlichem Kind“ verehrten Jesus von Nazareth in Berührung bringt, es ist in gewisser Weise auch eine Initiation: die Gläubigen, die angehalten sind vor den Festtagen zur Beichte zu gehen („Buß- und Sühneriten“), schreiten an Weihnachten individuell und kollektiv von der Dunkelheit zum Licht; ganz so, wie es schon dem antiken Kult der Geburt des unbesiegten Sonnengottes („Sol invictus“) entsprach. Die Geschenke imitieren die Gaben der drei Weisen aus dem Morgenland. Das Ergebnis: Mehr Hoffnung, mehr Licht, längere Tage – schließlich wirkt auch die Meteorologie („Wintersonnenwende“) mit.
Dass bei diesem sakral-kosmischen Geschehen auch profan-kommerzielle Aspekte mit ins Spiel fallen, wird zwar von Jahr zu Jahr von Christen beklagt, ist aber als Grund für Empörung nicht sonderlich „originell“. So erinnert der Schriftsteller Martin Mosebach („Krass“, „Taube und Wildente“) gegenüber dieser Zeitung daran, dass die „Entchristlichung von Weihnachten“ bereits „vor dem ersten Weltkrieg beklagt“ wurde, und „wenn es dann vielleicht mal etwas stiller darum wurde, dann nur deshalb, weil sich niemand über das längst Eingetretene noch weiter aufregen konnte, und niemand mehr etwas vermisste“.
Sprich: die Profanisierung von sakralen Riten und Festen außerhalb der Kirche ist zu allen Zeiten möglich. Vielleicht sogar unvermeidlich? Gut erkennbar an der weltbekannten „deutschen Weihnacht“, die mit all ihren sonderbaren Ingredienzien (Weihnachtsbaum, Weihnachtsmann, Weihnachtsgebäck, Weihnachtsmärkte) zur globalen kulturellen Attraktion wurde, die man – gleichgültig ob mit oder ohne Kirchgang – praktischerweise auch ohne christliche Glaubenshoffnung ausüben kann. Ganz so, wie es möglich ist, zum Beispiel dem Bach‘schen „Weihnachtsoratorium“ ohne spezifisch christliche, aber vielleicht doch spirituelle Gefühle zu lauschen.
Eine Mischung aus Sakralem und Profanem
Der britische Musikwissenschaftler Rupert Till („Pop Cult“) bezeichnet derartige Phänomene mit Blick auf die Popkultur als „sacred popular“, das heißt, als eine Mischung aus Sakralem und Profanem, was in den traditionellen Religionen mit einer klaren Trennung dieser Sphären nicht vorgesehen ist – weshalb eine solche Vermischung, so sie auftritt, eigentlich auch als „magic popular“ bezeichnet werden könnte; ist es nach Durkheim doch ein Kennzeichen der Magie, das Heilige zu profanisieren. Ungewollt anschaulich hat Coca-Cola diese Entwicklung mit dem Weihnachtsspot „Christmas is magic when we share it“ (2021) aufgezeigt, in dem mithilfe von glitzernden Geschenke-Kartons und jeder Menge Erfrischungsgetränken einsam-isolierte Nachbarn plötzlich zueinander finden und die Weihnachts-„Magie“ zusammen zu feiern vermögen – wobei das verbindende Totem natürlich nicht ein „göttliches Kind“ ist, sondern das populäre Erfrischungsgetränk.
Was immerhin belegt, dass auch der (post)moderne Mensch von heute, der häufig stolz auf seine „Religionslosigkeit“ ist, weiterhin religiös ansprechbar bleibt – sogar mit profanisierten religiösen Mustern und Zeichen; ganz so, wie es der Religionswissenschaftler Mircea Eliade in seinem mittlerweile klassischen Werk „Das Heilige und das Profane“ (1957) diagnostizierte. Eliade schrieb: „Der moderne Mensch, der sich als areligiös empfindet und bezeichnet, verfügt noch über eine ganze verkappte Mythologie und viele verwitterte Ritualismen. So haben, (…), die Neujahrsvergnügungen oder Hauseinweihungen, obwohl sie verweltlicht sind, immer noch die Struktur eines Erneuerungsrituals. Dasselbe gilt für die Feste und Vergnügungen bei einer Hochzeit oder bei der Geburt eines Kindes, beim Antritt einer neuen Arbeitsstelle oder bei einer Beförderung usw.“
Die Bedürfnisse nach "Ritualismen" ausgenutzt?
Doch: Machen sich nicht auch die Produzenten von sozialen Unterhaltungs- und Kommunikationsmitteln (social media) – gerade zur Advents- und Weihnachtszeit – die Bedürfnisse der Menschen nach „Ritualismen“ zunutze? Der Kauf eines neuen Smartphones mit attraktivem Tarif zur Weihnachtszeit gleicht einer Initiation; die Rezeption einer neuen Weihnachts-„Netflix“-Serie oder Staffel kann dem Konsumenten das Gefühl verleihen, an einer (pseudo-)religiösen Aura zu partizipieren. Man erhält quasi einen neuen Zugang zu Raum und Zeit. Wobei die sich selbst als sehr religiös einstufenden Zeitgenossen bei der Verspottung derartiger Banalitäten aus Pietät und Nächstenliebe in Zurückhaltung üben könnten. Und nicht nur deshalb: Längst gehört es auch bei katholischen Intellektuellen der Generation Golf oder Y zum guten Ton, bei „Instagram“, „Facebook“ oder „Twitter“ ein Foto von sich selbst mit Tannenbaum und/oder Weinglas zu posten oder die einschlägigen christlichen Motive (Verkündigungsengel, Heilige Familie, Kind in der Krippe, etc.) in den viralen Strom zu schleusen. Sprich: das analoge Brauchtum wird in den digitalen Raum verlagert, und auch Christen melden sich dort mit leicht verflüchtigt wirkender Innerlichkeit zu Wort. Gemäß der Einsicht des britischen Kulturkritikers Terry Eagleton, dass das beste Beispiel für Populärkultur schon immer die Religion war.
Doch sind solche Brauchtums-Transfers wohl nicht das Schlimmste der religiösen „Geschmacklosigkeiten“ der Jetzt-Zeit, zumal nicht in Krisenzeiten wie heute, in denen man jeder menschlich-unbedarften Geste nicht gleich die Authentizität absprechen möchte. So sieht denn auch Martin Mosebach die eigentliche rituelle Gefahr der Gegenwart bei der „von Todessehnsucht befallenen katholischen Kirche, die lieber heute als morgen den Weihnachtsmann in ihre Liturgien einbeziehen würde und es mancherorts gewiss bereits tut, weil man sich auf dem Feld Kirche nichts Gemeines und Lächerliches ausdenken kann, was nicht schon längst irgendwo praktiziert wird.“ Die Kirche als Mit-Produzent des Profanen? Als Plattform einer Coca-Cola-ähnlichen Weihnachtsmann-Mystik? Denkbar ist dies durchaus – aber auch ratsam? Etwa aus gesundheitlicher Perspektive? Es ist interessant, dass ausgerechnet der Schweizer Analytiker und Protestant C.G. Jung, der im Umgang mit esoterischen und okkulten Phänomenen gemeinhin nicht unerfahren war, die psychologische Wirksamkeit kirchlicher Riten präzise abklopfte.
Gefragt ist katholische Weite
So nahm Jung sich im Text „Das Wandlungssymbol in der Messe“ (1941) die katholische Liturgie- und Riten-Welt psychologisch vor und stellte fest, dass die aus der „christliche(n) Frühzeit“ überlieferte Feier „ihre Lebendigkeit unter anderem einer unzweifelhaften psychologischen Wirksamkeit verdankt“. Obschon die Messe „altertümlich“ sei, genüge sie den „höchsten Ansprüchen der Gegenwart“. Sie bezwecke schließlich in ihrer Fokussierung auf Opfer und Wandlung „einerseits eine Angleichung der Seele an Christus und andererseits eine Verinnerlichung der Christusgestalt in der Seele“. Kurzum: „Es ist eine Wandlung des Gottes und der Seele zugleich, indem sich in der Messe das ganze Drama der Inkarnation wenigstens andeutungsweise wiederholt.“ Was man wohl auch so auslegen kann: die psychologische Grundsubstanz des Weihnachtsgeschehens, dessen Mittelpunkt die Inkarnation ist, lässt sich nicht nur Weihnachten rituell erleben, sondern – vorausgesetzt man tritt durch die richtige Kirchentür – jeden Tag oder zumindest jeden Sonntag.
Mit dieser katholischen Weite lässt sich vielleicht auch dem kommerziellen Weihnachts-Treiben noch etwas Positives abgewinnen. Oder, um es mit Martin Mosebach zu sagen: „Vielleicht ist der unvernünftige Potlatsch, der zu Weihnachten stattfindet, doch eine irgendwie adäquate Feier der unerhörten Unvernunft der Menschwerdung.“ Denn, so fragt Mosebach provozierend weiter: „Vielleicht spüren die Leute immer noch so etwas, als sei die materielle Verschwendung eine Art Substitut für die eigentlich angemessene Freude? Dann sollte man sie am Ende zum weihnachtlichen Konsumrausch ermutigen?“
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