Im Frühjahr 1948, ein paar Monate vor Erscheinen der ersten Ausgabe der „(Deutschen) Tagespost“ bekam ein junger Kölner Schriftsteller vom Johann Wilhelm Naumann Verlag eine Absage. Das Lektorat sah in dessen erstem Nachkriegs-Roman „Kreuz ohne Liebe“, der von den Irrungen und Wirrungen einer katholischen Familie während der Nazi-Zeit handelt, „zwar ein menschliches Dokument“ und eine „künstlerische Gestaltung“, doch die „Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“ trete im Manuskript „zu wenig in Erscheinung“; außerdem liege „eine starke Schwarz-weiß-Schilderung“ der Wehrmacht vor. Dass der junge Nachwuchsautor „über dichterische Möglichkeiten“ verfüge, wurde vom Lektorat aber positiv wahrgenommen. Wohl nicht zu Unrecht: Denn 24 Jahre später wurde dem Schriftsteller namens Heinrich Böll, der mit dem „Kreuz ohne Liebe“ – in Abgrenzung zum Kreuz Christi – das Hakenkreuz gemeint hatte, der Nobelpreis für Literatur verliehen.
Dass es zwischen ihm, dem „Linkskatholiken“ der 1960er und 1970er Jahre par excellence, der 1976 aus der „Amtskirche“ austrat, ohne jedoch „vom Glauben abgefallen“ zu sein, wie er betonte, und dem Verlag der katholischen Zeitung „(Deutsche) Tagespost“, welche die „Spiegel“-Affäre vorangetrieben hatte und damals in den Augen mancher als publizistische Speerspitze der CSU galt, einmal zu Berührungen gekommen war – heute ist dies nur noch schwer vorstellbar. Doch offenbar waren unmittelbar nach dem Krieg die politisch-ideologischen Frontlinien unter Katholiken noch nicht so stark ausgeprägt. Die religiösen Gemeinsamkeiten überwölbten nach der Katastrophe die unterschiedlichen politischen Blickwinkel auf die Wirklichkeit.
Breite und komplexe Spannweite
Ein Phänomen, das in den 1980er und 1990er Jahren auch in Polen am Beispiel der ersten freien Gewerkschaft „Solidarność“ zu beobachten war. Zu den sogenannten „Messen für das Vaterland“ des seligen Jerzy Popiełuszko (1947-1984), der später von Mitarbeitern der Staatssicherheit ermordet wurde, kamen Katholiken, Agnostiker und Intellektuelle aus völlig unterschiedlichen Milieus. Sie vereinte der Protest gegen den kommunistischen Staatsapparat, der Widerstand gegen die systematische Unterdrückung der Menschenrechte und der Durst nach Wahrheit und Freiheit. Kaum war der Eiserne Vorhang gefallen, fingen die einstigen Regime-Gegner an, sich untereinander zu bekämpfen. Was im Rahmen des demokratischen Pluralismus völlig in Ordnung ist, jedoch problematisch werden kann, wenn sich dabei binnen-religiöser Hass einstellt. In Polen (und sicherlich nicht nur dort) ist dies mittlerweile der Fall: Statt der von Kardinal Stefan Wyszyński und Karol Wojtyła ausbalancierten Volksfrömmigkeit existiert in der religiösen Medienszene des Landes mittlerweile ein Potpourri des Abgrenzungs-Katholizismus, bei dem sich jedes katholische Milieu einem bestimmten katholischen Medium zuordnet und sich vehement von den Anhängern der anderen katholischen Medien/Milieus distanziert.
Eine solche, ziemlich sektenhaft anmutende Zersplitterung ist für das Feuilleton der „Tagespost“ 75 Jahre nach der Böll-Absage und fast 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer abwegig. Niemand – innerhalb oder außerhalb der Kirche – wird hier wegen seiner religiösen Ansichten oder seines publizistischen Engagements als Person verurteilt oder gar kampagnenartig bekämpft, solange sich die Ansichten im Rahmen des Grundgesetzes bewegen.
Breit und durchaus komplex ist die Spannweite derjenigen, die für das Ressort im Laufe der Jahrzehnte Beiträge geliefert haben, vielfältig und bunt die Namen derjenigen, die in Interviews zu Wort kamen: Rémi Brague, Tomas Halik, Lisa Eckardt, Sophie Rois, Monika Grütters, Michel Houellebecq, Sybille Lewitscharoff, Cees Nooteboom, Vittorio Hösle, Patrick Kelly, Andreas Scholl, Bazon Brok, Martin Mosebach. Um nur einige zu nennen.
Die Päpste der jüngeren Zeit waren große Kulturliebhaber
Doch: ist dies nicht eigentlich ganz normal? Sollte dies nicht unabhängig von Krisen-, Kriegs- und Katastrophenzeiten das Kennzeichen der sprichwörtlichen katholischen Weite sein, die nie davor zurückgescheut hat, die Schätze und Wahrheiten der verschiedenen Kulturen und Kulte der Menschheit unter einem Dach zu vereinen? Mit manchmal – da kann man der woke-Bewegung nur zustimmen – allerdings auch durchaus fragwürdigen, wenn nicht sogar menschlich verabscheuenswerten Ausbeutungs-Methoden? Doch getreu der Einsicht des Philosophen Hans-Georg Gadamer, dass ein Gespräch voraussetzt, dass der andere Recht haben könnte, ist für das Feuilleton dieser Zeitung Vielstimmigkeit eine Selbstverständlichkeit. Zumal Weite, Offenheit und Polyphonie bei aller gebotenen Klarheit, wenn es um die letzten Dinge geht, doch immer schon zum innersten Wesenskern des Katholizismus gehörten. Wie sollte es angesichts des Begriffes „katholisch“ auch anders sein? Steckt in dem Wort doch schon der Verweis auf das Allgemeine, das Ganze, das Umfassende. Das Ganze kann per se nicht eng, klein oder abgespalten sein. Das Ganze gehört zusammen.
Wobei es für das Feuilleton einer katholischen Wochenzeitung ein Vorteil ist, dass die Päpste der jüngeren Zeitgeschichte allesamt große Kulturliebhaber waren: Johannes Paul II. stand als junger Mann selbst schauspielernd auf der Bühne und schrieb 1999 einen „Brief an die Künstler“, in dem er an die fruchtbare Zusammenarbeit von Kirche und Kunst erinnerte. Papst Benedikt XVI., der neben dem „Corriere della Sera“, der „FAZ“ und dem „L'Osservatore Romano“, „Die Tagespost“ bezog, sowie der Hölderlin- und Borges-Verehrer Franziskus haben häufig zur Literatur gegriffen, um Inspiration zu empfangen und Begegnungen mit Künstlern nie gescheut.
Bereits in der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et Spes“, wurde aber auch offensiv angesprochen, dass ein „friedliches Verhältnis von Kultur und Christentum, (…), sich nicht immer ohne Schwierigkeiten einstellt“. (Gaudium et spes, 62) Die Konzilsväter betonten deshalb: „Diese Schwierigkeiten brauchen das Glaubensleben nicht notwendig zu schädigen, können vielmehr den Geist zu einem genaueren und tieferen Glaubensverständnis anregen.“ Dank der „Ergebnisse der profanen Wissenschaften“ könnten „die Laien zu einem reineren und reiferen Glaubensleben kommen“. Und: „Auch die neuen Formen der Kunst, die gemäß der Eigenart der verschiedenen Völker und Länder den Menschen unserer Zeit entsprechen, sollen von der Kirche anerkannt werden.“
Angeblich feiert man das Leben
Viel ist auf diesem Weg noch zu tun und zu lernen, wie ein DT-Artikel aus dem Jahre 2008 belegt. Verfasst von einem Redakteur, der nicht mehr für die Zeitung arbeitet. Dem damals an Krebs erkrankten Regisseur Christoph Schlingensief wurde vorgeworfen, seine Krankheit öffentlich zu inszenieren. Stattdessen solle er das Sterben lieber „still, lautlos, wortlos und handlungslos“ vollziehen. Er solle sich „über die echte Kultur des Sterbens“ Gedanken machen, „bevor es zu spät“ sei.
Der Katholik Schlingensief reagierte darauf in seinem Tagebuch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“, das 2009 bei Kiepenheuer & Witsch erschien. Dort schrieb er: „Jetzt, wo ich immer mehr an das Ende denken muss, mir überlege, ob ich mein Leben gut gelebt habe, mir auch Vorwürfe mache, nicht genug für andere getan zu haben, fällt mir auf, wie viele Schwarzmaler im Christentum unterwegs sind. Leute, die düstere Botschaften verbreiten, sie aber unter der so genannten Frohen Botschaft verstecken. Eigentlich steckt hinter dieser Freudenfassade des Christentums etwas sehr Grausames.“ Das „ganze System“, so Schlingensief weiter, sei falsch. „Angeblich feiert man das Leben, die Schöpfung, aber ununterbrochen wird mit dem Sensenmann gedroht.“ „Die Tagespost“ wirkte auf den Mann aus dem Ruhrgebiet wie ein „Todesbote“.
Besonders der Schlusssatz „Bevor es zu spät ist“ ging dem Künstler an die Nieren. „Das ist genau dieser Hammer, der in dem System lauert: Diese Drohung, man solle auf Erden alles ins Reine bringen, bevor es zu spät ist. Unter dem Motto: Wenn du stirbst, dann sind die Würfel gefallen, dann wird man entscheiden über dich. Was ist das für ein Horror? Was soll das? Ich werde so wütend, wenn ich mir klarmache, was für ein bösartiger Ansatz das ist, der einem jede Freude am Leben nehmen will.“
Kein „Todesbote“ sein
Inzwischen sind lobende und würdigende Artikel in Erinnerung an Christoph Schlingensief in der „Tagespost“ erschienen. Wir wollen wahrlich kein „Todesbote“ sein. Doch der Schmerz bleibt. Umso wichtiger ist es, sensibel zu bleiben für die Nöte der Welt, Menschlichkeit und Empathie nie zu vergessen. Sowenig wie das römische Zentrum des Katholizismus darf das „Tagespost“-Feuilleton ein „Ghetto“ oder eine rückwärtsgewandte „Festung“ sein. Mut und unkonventionell wirkende Ideen, wie sie der Jesuit aus Buenos Aires aktuell mit dem Synodalen Weltprozess zeigt, sind gefragt. Die Mehrheit der 1, 4 Milliarden Katholiken weltweit dürfte es ähnlich sehen.
Heinrich Böll hat auf die Absage vom Johann Wilhelm Naumann Verlag damals übrigens ziemlich sportlich, wenn nicht sogar heiligmäßig reagiert: „Dem Urteil Ihres Kollegiums unterwerfe ich mich vollkommen, soweit es die künstlerische […] Beurteilung meiner Arbeit belangt“, antwortete er am 10. Juni 1948. Dann machte er sich an die weitere literarische Arbeit. Sein Katholizismus mit menschlichem Angesicht und lateinischer Grundierung sollte Generationen von Lesern weltweit prägen. Im Jahr 2002, 17 Jahre nach Bölls Tod, wurde „Kreuz ohne Liebe“ veröffentlicht.
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