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Christen: Die neuen Heimatlosen

Christen waren einst nicht nur in der westlichen Welt beheimatet, sondern die Bauherren der westlichen Verfassungen. Neue Gesetze lassen sie zusehends heimatlos werden.
Das christliche Menschenbild in der Verfassung des Westens
Foto: Adobe Stock | Mit der tendenziellen Liberalisierung von Abtreibung, Suizidbeihilfe und des Ehe- und Familienrechts verabschiedet sich die westliche Welt zusehends von ihrem christlichen Erbe.

Er entschied sich, es nicht zu tun. Bei seiner Vereidigung zum Bundeskanzler verzichtete Bundeskanzler Olaf Scholz auf die Formel „so wahr mir Gott helfe“ und mit ihm sieben seiner Minister. Dahinter steht wohl die Annahme der Politiker, dass sie sich und ihre politischen Entscheidungen nicht vor einer höheren Instanz zu rechtfertigen hätten und die Grundlage ihres politischen Handelns ausschließlich der menschlichen Weisheit und des menschlichen Wissens bedürfe.

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Doch die Verfassungen der westlichen Welt folgen einer anderen Logik: Sie sind zutiefst im christlichen Welt- und Menschenbild verwurzelt. Die die westlichen Gesellschaften tragenden Werte der Freiheit, Gleichheit und Würde aller Menschen lassen sich unmittelbar aus dem Christentum ableiten. Die Überzeugung, dass alle Menschen, unabhängig von ihrem Denken oder Handeln, die gleiche Würde haben, gründet in der Annahme, dass er sowohl geliebtes Kind, als auch Abbild Gottes ist. Das unterscheidet westliche Gesellschaften grundlegend von Ländern, in denen der Islam prägend ist, sowie vom links- oder rechtsextremen Weltbild.

Geschlechtsangleichung wird natürlich staatlich finanziert

Der Gedanke, dass der Mensch ein freies Wesen ist und zur eigenständigen Entscheidungsfindung begabt ist, lässt sich biblisch aus dem Sündenfall ableiten. Dieser zeigt: Der Mensch ist fähig, sich frei zu entschieden, unabhängig davon, ob die Konsequenzen für ihn gut oder schlecht sind. Doch mit der tendenziellen Liberalisierung von Abtreibung, Suizidbeihilfe und des Ehe- und Familienrechts verabschiedet sich die westliche Welt zusehends von dem christlichen Erbe, das ihren Verfassungen zugrunde liegt.

So soll in Deutschland künftig der Geschlechtseintrag einfach auf dem Standesamt geändert werden können, geht es nach den Plänen der Ampelmänner. Die Geschlechtsangleichung soll natürlich staatlich finanziert werden. „Denn zur Menschenwürde und zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gehört auch das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung“, wird argumentiert. Das bisher geltende Transsexuellengesetz bezeichnet die Ampelregierung als „verfassungswidrig“. Das biologische Geschlecht einer „Transperson“ „auszuforschen“ und „zu offenbaren“ als wäre dies in den meisten Fällen nicht sowieso offensichtlich soll mit Bußgeld bestraft werden können. Arbeitgeber sind verpflichtet, gegen Mitarbeiter vorzugehen, die Kollegen „diskriminieren“, die Konsequenzen reichen von Versetzung über eine Abmahnung bis hin zur Kündigung. Eine Hausregel der EU, die sie ihren Bewohnern diktierte. Ähnliche Versionen wie die deutsche Umsetzung der EU-Vorgabe gibt es in Spanien, Portugal, Schweden und Kanada manche gehen sogar so weit, dass das Ansprechen einer Person mit den „falschen“ Personalpronomen ins Gefängnis führen kann. Das subjektive Empfinden wird zur neuen Richtlinie der Rechtsprechung.

Die „Ehe für alle“, die sich den vergangenen Jahren in fast allen westlichen Staaten ausbreitete, zog natürlich die „Familie für alle“ nach sich. Denn wenn es keinen Unterschied zwischen homo- und heterosexuellen Paaren gibt, warum sollte es dann einen Unterschied zwischen Familien mit Mama und Mama oder Papa und Papa oder Mama und Papa geben? Deswegen soll laut Ampel-“Fortschrittlern“ in homosexuellen Partnerschaften nicht nur der biologische Elternteil sofern es einen gibt ab der Geburt des Kindes als Elternteil eingetragen werden, sondern beide. Ich habe hier bewusst „Partnerschaft“ geschrieben, weil die Elternschaftsanerkennung nicht mehr an die Ehe gebunden sein soll, ebenso wie die Adoption von minderjährigen Kindern. Frei nach dem Motto: Kinder für alle!

Außer die natürlich, die keine wollen - unabhängig davon, ob sie bereits schwanger sind oder nicht

Verwechslung mit Gesundheitsversorgung

Nachdem die Ampelregierung das Werbeverbot für Abtreibungen gefällt hat, bereitet sie nun den nächsten Schritt vor: Wie Abtreibungen durchgeführt werden, soll künftig jeder Medizinstudent lernen auch wenn er eigentlich Orthopäde werden möchte. Die Bundesfamilienministerin Lisa Paus geht noch weiter: Sie fordert, eine Abschaffung des Paragrafen 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt. Es gehe um fundamentale, um existenzielle Fragen, es gehe um das Menschenrecht auf reproduktive Selbstbestimmung und um das Recht von Frauen, über ihren Körper zu entscheiden, argumentiert die für Familien zuständige Frau in Deutschland. Frankreich ist bei der Liberalisierung von Abtreibung schon weiter: Dort werden Abtreibungen bereits (ob mehrheitlich gewollt oder nicht, sei jetzt mal dahingestellt) von der Allgemeinheit finanziert.

Präsident Macron steht zur Abtreibung
Foto: Gonzalo Fuentes (Pool Reuters/AP) | Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat zum wiederholten Male angekündigt, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem ein „Recht auf Abtreibung“ in der französischen Verfassung verankern werden soll.

Während der Pandemie wurde die Frist für die Einnahme von Abtreibungspillen von zwölf auf vierzehn Wochen verlängert. Das Argument: Durch den Lockdown könnten Frauen kaum oder erschwert Abtreibungen auf dem „normalen“ Weg durchführen lassen. Die Änderung bleibt auch nach der Pandemie bestehen. Der Präsident des Landes, Emmanuel Macron, spricht sich sogar dafür aus, ein „Recht auf Abtreibung“ in der Verfassung verankern zu lassen. Ein Gedanke, der in den USA bereits Form angenommen hat: Seitdem das Grundsatzurteil „Roe v Wade“ gekippt wurde, entscheiden die Bundesstaaten selbst über ihre Abtreibungsgesetze. Während die einen diese rigoros verschärft und Abtreibungen teils komplett verboten haben, haben andere diese liberalisiert und wegen der Verwechslung mit Gesundheitsversorgung ein „Recht auf Abtreibung“ in ihren Gesetzen verankert. 

Christlich geprägte Verfassungen aus säkularem Weltbild interpretiert

Was mit der Homo-„Ehe“ und der Abtreibung gemacht wurde, passiert nun auch der Sterbehilfe: Sie wird zum Recht auf Selbstbestimmung erklärt. In Deutschland befindet sich eine Regelung zur Sterbehilfe, bei der im Unterschied zum assistierten Suizid dem Patienten direkt von einem Arzt eine tödliche Substanz verabreicht wird, nach wie vor im Schwebezustand, nachdem der Bundestag sich auf keinen Gesetzesentwurf einigen konnte. Auch hier die Argumentation diesmal des Bundesverfassungsgerichts , das Verbot der Sterbehilfe sei „verfassungswidrig“. Die Legalisierung der Sterbehilfe breitet sich in Europa wie ein Flächenbrand aus: Zuletzt hat Portugal sie erlaubt und folgt damit dem Beispiel von Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Spanien. Frankreich überlegt aktuell noch und schiebt die Diskussion vor sich her ins nächste Jahr. Der Papst warnte bei einem Besuch in Frankreich kürzlich mit Bezug auf das Thema vor „ideologischen Kolonialisierungen (...), die gegen das menschliche Leben gerichtet sind“. Ob die Appelle des Kirchenoberhauptes in den Hallen des Palais Bourbon ungehört verhallen, wird sich zeigen. 

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Doch der Trend wird sich nicht stoppen lassen: Die christlich geprägten Verfassungen werden immer mehr aus einem säkularen Weltbild heraus neu interpretiert. Die neue Grundlage lautet „Selbstbestimmung über alles“. Letztlich ist diese Denkweise nur die logische Konsequenz der Verdunstung des christlichen Glaubens. Denn wenn es keine transzendente Macht gibt, die den Menschen erschaffen hat, ist logischerweise der menschliche Wille die höchste Instanz. Christen finden sich durch diese Entwicklung in einer kläglichen Situation: sie stehen ohne ihr Zutun gegen das Gesetz. Sie haben sich nicht geändert, aber die Gesellschaften, in denen sie leben, haben es. Das macht sie zu Heimatlosen in ihren Gesellschaften, die ursprünglich von ihrem Wertegerüst getragen wurden. Die beiden Optionen, die sie haben: Entweder sich selbst und Gott verleugnen und sich der Meinung der Mehrheit beugen, auch wenn diese nicht der Wahrheit entspricht oder die Wahrheit gegen den Willen der Mehrheit versuchen durchzusetzen. Christen kann in dieser Situation das Wissen Trost sein, dass ihre wahre Heimat nicht auf Erden ist, sondern in der Ewigkeit.

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