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Bernsteins Nase und Schlimmeres

Eine neue Nase für den Film über Leonard Bernstein und ein Tourismus-Funktionär in Graubünden der sich ein über urlaubende Juden beschwert.
Bradley Cooper als Leonard Bernstein
Foto: IMAGO (www.imago-images.de) | Für seine Darstellung in dem auf „Netflix“ geplanten Epos über Leonard Bernstein hat sich Cooper vom Maskenbildner eine Nase verpassen lassen, die der des Dirigenten ähnelt.

Als hartnäckiger Anhänger gedruckter Zeitungen begebe ich mich, wenn ich auf Reisen bin, morgens auf die Suche nach Zeitungen und kaufe möglichst immer auch das lokale Blättchen. Derzeit halte ich mich in Graubünden auf. Vor mir liegt die „New York Times“ und die „Davoser Zeitung“. In der einen Zeitung wird über Vorwürfe berichtet, der Schauspieler und Regisseur Bradley Cooper verbreite antisemitische Klischees. Für seine Darstellung in dem auf „Netflix“ geplanten Epos über Leonard Bernstein hat sich Cooper vom Maskenbildner eine Nase verpassen lassen, die der des Dirigenten ähnelt. Ein Schauspieler, der versucht, so auszusehen, wie der, den er darstellt, gilt inzwischen als Skandal.

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Die Grenzen, was als skandalös zu gelten hat und was nicht, verschieben sich täglich. Die Kinder Bernsteins verteidigen Cooper in dem Artikel in der „New York Times“ gegen die Vorwürfe, und ich, während ich das lese, frage ich mich, warum ich mit solchen Nichtnachrichten überhaupt meine Zeit verschwende. Ich greife also zur „Davoser Zeitung“ und werde dort von einem Artikel überrascht, der im Vergleich zur läppischen Bernstein-Cooper-Story wirklich das Zeug zu einem internationalen Shitstorm hätte, hier in Davos aber nur eine kleine Geschichte im Lokalblättchen ist.

Was Ortsgebrauch, das tue auch!

Der örtliche Chef des Tourismus-Verbandes, Reto Branschi, so ist zu lesen, beschwert sich über die orthodoxen Juden, die traditionell gerne in der Region Urlaub machen. Angeblich respektieren sie die örtlichen Sitten nicht. Auf die Bitte des Interviewers, konkreter zu werden, weicht der Tourismus-Funktionär zunächst aus, er wolle „keine Vorurteile schüren“, nennt aber dann doch das achtlose Wegwerfen von Unrat in der freien Natur. „Gäste, die sich so verhalten, zeigen, dass sie sich nicht um die Regeln ihrer Gastregion scheren“, das sei „respektlos“. Das Interview mit der „Davoser Zeitung“ schließt Branschi mit einem jüdischen Sprichwort: „Was Ortsgebrauch, das tue auch.“

Der Mann hat ja vielleicht sogar recht, aber er muss froh sein, dass diese Kolumne hier nur in der „Tagespost“ erscheint und nicht in der „New York Times“, die also vermutlich nie etwas von seinem Interview erfahren werden. Andererseits: Wir sind hier in der Schweiz und hier gelten andere Regeln. Das, was skandalös ist, ist nicht nur eine Frage der Zeit, sondern auch des Ortes. Würde sich ein Tourismus-Funktionär im Berchtesgadener Land über jüdische Touristen beschweren, binnen Stunden würden hier Übertragungswagen von „CNN“ und „BBC“ stehen.

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Hier in Graubünden ist man da unbefangener. Unbefangenheit. Die hat man als Deutscher mit solchen Themen nicht. Und hält sich daher am besten aus Diskussionen raus, in denen verhandelt wird, was als antisemitisch gilt und was nicht. Ich lege nun also die Zeitungen zur Seite und schiebe die drohende Bergwanderung nun nicht mehr länger vor mir her. Sollten mir, was hier keine Seltenheit ist, orthodoxe Juden begegnen, werde ich sie freundlich grüßen. Und sollten sie etwas fallen lassen, werde ich es aufheben und entsorgen. Das handhabe ich bei holländischen oder englischen Touristen ähnlich.

 

Der Autor schreibt Bestseller und gehört zur BILD-Chefredaktion.

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