Europa eine Seele geben

Ein Konzept entwickeln, das dem ganzen Menschen gerecht wird: Das neue Jahrbuch der Hochschule Heiligenkreuz. Von Kristofer Böhme
Foto: Susanne Hammerle | Die enge Verbindung von monastischer Spiritualität und universitärer Intellektualität lässt die Wissenschaft in ungeahnter Weise aufblühen: Stift Heiligenkreuz.

Die Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz/Wien hat in den letzten Jahren eine Entwicklung erfahren, die man nicht anders als rasant und fulminant bezeichnen kann. Diese Charakterisierung gleich mit zwei Attributen scheint sprachlich vielleicht ein wenig doppelt gemoppelt, ist aber bei näherem Hinsehen sachlich gerechtfertigt, denn man wird vor Verwunderung fast sprachlos, wenn man näher betrachtet, was in Heiligenkreuz geschehen ist.

Jährlich steigt die Zahl der Studierenden – derzeit bevölkern knapp 400 junge Leute den sehenswerten Campus der Hochschule – und gerade ist der Erweiterungsbau, der viele Millionen kostete, in Betrieb genommen worden, mit einer kommunikationstechnischen Ausrüstung, die sich auf dem letzten Stand befindet. Dabei ist zu bedenken, dass die Hochschule einschließlich ihrer umfangreichen Baumaßnahmen gänzlich durch Spenden getragen und unterhalten wird, und das heißt unmissverständlich: Sie ist, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten, auch in Zukunft dauerhaft auf Spenden angewiesen.

Was ist der Grund für diese nahezu unglaubliche Entwicklung, die manch einer als ein „Wunder“ bezeichnet? Es ist ganz offenkundig, dass die enge Nachbarschaft, ja Verbindung von monastischer Spiritualität und universitärer Intellektualität die Wissenschaft in ungeahnter Weise aufblühen lässt. Insofern ist die Hochschule der lebendige Beweis dafür, dass Glaube und Vernunft – um es in einem Bild zu sagen, dessen sich schon die Enzyklika „Fides et Ratio“ bedient – vergleichbar sind mit den beiden Lungenflügeln, auf denen ausnahmslos jeder Mensch atmet. So ist es mehr als naheliegend, dass diese Hochschule dem Namen jenes Papstes zugewidmet wurde, der – wie schon sein Vorgänger Johannes Paul II. – eine ganz besondere und bewusst gelebte Nähe zur Wissenschaft pflegte.

Man kann nur dankbar sein, dass der Konvent des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz mit seinem damaligen Abt Gregor Henckel-Donnersmarck dem seinerzeit zu Recht als großes Wagnis empfundenen Ausbau der Hochschule zustimmte. Heute ist es ein Viergespann, das in besonderer Weise das anhaltende Aufblühen der Hochschule fördert: Abt Maximilian Heim, der nicht nur der Magnus Cancellarius – Großkanzler – der Hochschule, sondern auch ihr umsichtiger und einfühlsamer Schirmherr ist, Rektor Professor Pater Karl Wallner, der einen visionären Blick hat und Andere emphatisch zu begeistern weiß, Vizerektor Professor Pater Alkuin Schachenmayr und Studiendekan Professor Pater Wolfgang Buchmüller; sie sind allesamt Zisterziensermönche im Stift Heiligenkreuz, einem Konvent, der die Förderung wissenschaftlicher Begabungen in den eigenen Reihen längst als eine wichtige Aufgabe erkannt hat und nach Kräften verfolgt.

Studiendekan Pater Buchmüller nun zeichnet verantwortlich für das jüngste Projekt der Hochschule: die Entscheidung nämlich, ein Jahrbuch zu veröffentlichen. Der erste Band dieses Jahrbuches ist jetzt unter dem Titel „Europa eine Seele geben“ erschienen. Auf das angenehmste unterscheidet sich dieses Jahrbuch von anderen Veröffentlichungen, die diese Bezeichnung führen, und oft eine mehr oder weniger lesenswerte Auswahl berichtenswerter und erinnerungswürdiger Ereignisse, netter Anekdoten, Chroniken und Dokumentationen bieten. Buchmüller, Vorstand des Instituts für Spiritualität und Religionswissenschaft an der Hochschule und gemeinsam mit Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Herausgeber, hat das Jahrbuch unter ein sachliches Thema gestellt und so zu einen wirklich bemerkenswerten Beitrag der Literatur über die aktuelle Europakrise hinzugefügt. An dieser Linie, das Jahrbuch als Sachbuch zu gestalten, soll auch in Zukunft festgehalten werden. Während der jetzt erschienene Pilotband sich mit zahlreichen Beiträgen den Grundlagen jener Kultur, die wir Europa nennen, widmet, sollen in den beiden Folgejahren die Themen „Selbsttranszendenz: Gebet und Gewissen“ sowie 2018 dann „Romano Guardini“ den Schwerpunkt bilden.

Die Sachbeiträge des Jahrbuches 2016 untergliedern sich in drei große Kapitel: Glaube, Philosophie und Politik. Zum Schwerpunktthema „Europa“ steuern Christoph Böhr, Angela Ales Bello, Hanns-Barbara Gerl-Falkovitz, Rémi Brague, Marian Gruber, Enrico Sperfeld, Berthold Wald, Heinrich Schneider, Johann Braun, Beatrix Kersten und Cyrill Jan Bednar Aufsätze bei. Unter dem Rubrum „Lectio spiritualis“ schreiben Wolfgang Buchmüller und Leo Bazant-Hegemark. Es folgen zwei umfangreiche Sektionen: „Literaturberichte“ – mit Beiträgen von Beate Beckmann-Zöller und Manuel Schlögl sowie einem Interview mit dem bekannten Schriftsteller Patrick Roth – und „Rezensionen“. So kommt das Jahrbuch auf einen beachtlichen Umfang von insgesamt stolzen 469 Seiten. Buchmüller, der sich mit diesem Jahrbuch große Verdienste erworben hat, schreibt in seinem Editorial: „Während der französische Präsident“ im Juli 2013 „die letzten Religionsvertreter aus der nationalen Ethikkommission entfernt hat, spricht man im akademischen Raum hinter vorgehaltener Hand bei den Philosophen von einer Rückkehr der Metaphysik, die in den letzten 40 Jahren aus der Welt der Universitäten verbannt und ausgegrenzt war.“ Und genau darum geht es: Hier und jetzt ein Verständnis von Wissenschaft neu und zeitgemäß zu entwickeln, das dem Konzept von Katholizität, wie es Blaise Pascal zu eigen war, folgt: gerade nicht als eine Verkürzung von Intellektualität, sondern als die (Wieder-) Entdeckung des Menschen als Ganzes, also mit allen seinen geistigen – den intellektuellen, den religiösen und den spirituellen – Möglichkeiten. Dazu muss die heute vielen Zeitgenossen so unüberwindlich erscheinende Barriere zwischen „science et transcendence“ überwunden werden. Was in der Moderne vorzugsweise als Denkverbot galt, nämlich die Fragen nach der ganzen Wahrheit in ihren so vielfältigen Ausfaltungen zu stellen, wird heute mehr und mehr zu einem Programm künftiger Forschung: auf dass Physik und Metaphysik, Theologie und Philosophie wieder zu ihrem allseitigen Nutzen zusammenfinden. Als Vorreiter dieser Neuvermessung der Landschaften des Geistigen profiliert sich gerade die Hochschule Heiligenkreuz.

Zu empfehlen ist dem Leser dieses Buch in vielerlei Hinsicht: als Beitrag zu einer aktuellen Debatte über Europa, das sich kulturell und spirituell selbst zu verlieren droht und dessen Zukunft auf dem Spiel steht, aber ganz besonders auch als eine in nahezu sämtlichen Beiträgen aufblitzende Reflexion auf ein neues Verständnis von Wissenschaft und Glaube am beginnenden 21. Jahrhundert – wobei der letztgenannte Gesichtspunkt, ein neues Verständnis des Zusammenklanges von Vernunft und Glaube zu entwickeln, vielleicht den Kern der Antwort auf die Schwäche der sich ihrer selbst fragwürdig gewordenen europäischen Kultur ausmacht.

Wolfgang Buchmüller und Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hrsg.): Europa eine Seele geben. Jahrbuch der Hochschule Heiligenkreuz 2016. Heiligenkreuz im Wienerwald 2016 (= Ambo. 1.), 469 Seiten, ISBN 978-3-903118-05-8, EUR 24,90

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