Erinnerung macht Wege in die Gegenwart sichtbar

Ein „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen“ soll Bürger verwurzeln – Bewusstseinssuche an Rhein, Ruhr und Weser. Von Michael Gregory

Gott mit dir du Land der Bayern“, erbitten Franken, Schwaben und Altbayern in ihrer gemeinsamen Hymne. „Wir sind die Niedersachsen“, verkünden Ostfriesen, Oldenburger und Harzer. Und noch weiter nördlich weckt das „Schleswig-Holstein, meerumschlungen“ Emotionen.

Die Identität eines Landesbewusstseins

Im 18-Millionen-Menschen-Land Nordrhein-Westfalen herrscht dagegen Schweigen. Ein Landesbewusstsein, das andernorts oft selbstverständlich ist, hat sich auch 72 Jahre nach Gründung des bevölkerungsreichsten Bundeslandes nicht wirklich herausgebildet. Dabei spielt die fehlende Hymne nur eine untergeordnete Rolle. Viel entscheidender sind heterogene Historien, gegensätzliche Mentalitäten und wohl auch manch gut gepflegtes Ressentiment. All das stößt auf dicht besiedeltem Raum im äußersten Westen Deutschlands aufeinander.

Den Wunsch, eine verbindende Brücke zu bauen, bis hin zum ehrgeizigen Vorhaben, ein Landesbewusstsein, womöglich sogar eine gemeinsame Identität zu fördern, gibt es deshalb schon seit langem. Die bisherigen Versuche verliefen jedoch oft im Sand oder wurden für eher parteipolitische Zwecke genutzt.

Lässt sich solche Verbundenheit überhaupt auf staatliches Geheiß hin herbeiführen? „Kaum“, sagt Guido Hitze im Gespräch mit der „Tagespost“. Als Historiker und ausgewiesener Kenner der Landesgeschichte wurde er vom Landtag in Düsseldorf zum Leiter einer Planungsgruppe berufen, die ein „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen“ auf den Weg bringen soll. „Aber am Beginn jeden öffentlich inszenierten Geschichtsbewusstseins steht die Erinnerung“, so Hitze. Darum könne ein Ort, der Erinnerung ermöglicht, der zugleich Wege in die Gegenwart sichtbar macht und Gemeinsamkeiten jenseits trennender Gräben benennt, ein wichtiger Schritt sein hin zu einem kollektiven Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Mit einem selbstgestalteten Zug durch die Landschaft

Nordrhein-Westfalen habe sich mit einer solchen Selbst-Bewusstwerdung bis heute schwer getan, erklärt der Wissenschaftler. „Es genügte sich lange Zeit selbst als politisches und ökonomisches Kernland der alten Bundesrepublik und fand sich ab mit seiner ,Künstlichkeit‘.“ Nordrhein-Westfalen werde darum selten mit dem Begriff „Heimat“ assoziiert. Manche meinten sogar hämisch, erklärt Hitze, das von den Siegern des Zweiten Weltkriegs zusammengefügte politisch-administrative Konstrukt sei „seelenlos“ und bestenfalls ein Konglomerat unterschiedlicher Teilidentitäten als Niederrheiner, Kölner, Münsterländer, Ostwestfalen, Lipper, Sauer- und Siegerländer und natürlich Bewohner des Ruhrgebiets.

Tatsächlich lassen sich Unterschiede zwischen Rheinländern, Westfalen und Lippern auch in globalen Zeiten, die sonst manche Verschiedenheit einebnen, nicht leugnen. Aber „seelenlos“? Wer etwas genauer hinschaut, gewinnt an Rhein, Ruhr und Weser ein anderes Bild. Ein Bild, das zeigt, dass die Museumsmacher gar nicht bei Null anfangen müssen.

Es ist nur eine kleine Episode, die aber doch deutlich macht, dass es schon jetzt recht solide Bande der Zusammengehörigkeit gibt. So hatten sich die Lipper, Bewohner des kleinsten Landesteils Nordrhein-Westfalens, besonders intensiv und originell auf den ersten Heimatkongress des neu geschaffenen Heimatministeriums Nordrhein-Westfalens im vergangenen März vorbereitet. Mit einem selbst gestalteten Zug der früheren Lippischen Eisenbahn kamen sie en bloc von Detmold nach Münster. Es war ein schönes und weithin sichtbares Signal. „Als kleinster Landesteil steht Lippe zu Nordrhein-Westfalen, und als Lipper freuen wir uns, Teil dieser abwechslungsreichen Gemeinschaft zu sein, auch wenn die Distanz zwischen Detmold und Düsseldorf groß ist“, so eine Teilnehmerin (es sei hinzugefügt, dass sich Lippe 1947 auch für die Zugehörigkeit zu Niedersachsen hätte entscheiden können).

Volksfrömmigkeit mit reichem Brauchtum

Ebenso gibt es Vorbilder zur Konfektionierung eines Hauses der Landesgeschichte: Bayern hat eines in Regensburg, Baden-Württemberg in Stuttgart und der Bund in Bonn. Alle Einrichtungen zeigen: Ein gemeinsames Haus erfreut das ganze Land, mag gute Grundlagen für ein Landesbewusstsein bieten, kann es aber kaum forcieren. Selbst-Bewusstsein und Identität müssen gleichermaßen frei von unten wachsen.

Vor diesem Hintergrund ist für Nordrhein-Westfalen – einem „Kontinent im Kleinen“, der ähnlich wie Europa verletzlich erscheint, aber doch zusammengehört – nur ein Rückschluss möglich: Identität durch Vielfalt. Sie bildet die Klammer. Wenn es also dem künftigen, im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Landesregierung geforderten Haus der Landesgeschichte gelingt, die Schönheit und den Wert von Vielfalt ein Stück erfahrbar zu machen, vielleicht sogar das Gefühl zu wecken, dass es Freude macht, in einem so abwechslungsreichen Land zu leben, ist viel erreicht.

Genau das macht das Vorhaben „Haus der Landesgeschichte“ spannend und zu einer geschichtspolitisch anspruchsvollen Herausforderung, die alle bisherigen Ansätze in den Schatten stellt – und die kaum darauf verzichten kann, auch die Geschichte des Glaubens an Rhein, Ruhr und Weser aufzugreifen, denn sie ist ein Musterbeispiel für Vielfalt: Hier der katholische, teils bis heute in fröhlicher Volksfrömmigkeit verwurzelte Westen mit reichem Brauchtum.

Dort das eher evangelische Ostwestfalen und Siegerland mit ihren protestantischen Sichtweisen aufs Leben. 2021, zum 75-jährigen Landesjubiläum, soll die erste Schau stehen, und zwar im berühmten Behrens-Bau am Rheinufer, dessen Architekt Peter Behrens zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer Baumeister für den Aufbruch in eine menschenfreundliche Funktionalität und faszinierende Ästhetik stand. In Düsseldorf könnte es kaum einen besseren Ort für das neue Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen geben.

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