Die Wunder des freien Marktes – ein libertärer Mythos

Martin Rhonheimer hält nicht nur die Soziale Marktwirtschaft, sondern auch die katholische Soziallehre für einen Mythos. Stattdessen erzählt er uns von einem Märchenland, in dem der Markt völlig frei ist und „Wohlstand für alle“ produziert. Was aber ist mit denen, die am Markt nicht aktiv werden können? Von Arnd Küppers
Marktöffnung wie in China kann das Leben der ärmeren Menschen entscheidend beeinflussen
Foto: dpa | Eine Marktöffnung wie in China kann das Leben der ärmeren Menschen entscheidend beeinflussen. Dieser Arbeiter in der chinesischen Hauptstadt Peking organisiert sich erstmal eine kleine Mahlzeit.

Wenn Martin Rhonheimer (vgl. DT vom 25. Februar 2017, S. 14) auf die Vorzüge der Marktwirtschaft und die Probleme einer Zentralverwaltungswirtschaft oder des staatlichen Interventionismus hinweist, dann hat er Recht. Denn nur der Markt ist in der Lage, die vielfältigen Bedürfnisse der Menschen und die optimale Nutzung der zur Befriedigung dieser Bedürfnisse notwendigen Ressourcen zu koordinieren. Der Markt ist, wie es der große Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899–1992), einmal in nüchterner Klarheit gesagt hat, ein „Mechanismus zur Vermittlung von Informationen“ – nicht mehr und nicht weniger. Sozialistische Planwirtschaft und staatlicher Interventionismus wiederum scheitern an dem hoffnungslosen Unterfangen, genau diese Informationen zentral zu aggregieren – eine „Anmaßung von Wissen“, wie Hayek das ebenfalls auf den Punkt gebracht hat.

Die Entfaltung der Marktwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert bedeutete einen epochalen Einschnitt in der Menschheitsgeschichte. Mit ihrer Verbreitung ist ein Wohlstand entstanden, von dem die Menschen früherer Epochen noch nicht einmal träumen konnten – es hätte ihre Vorstellungskraft überstiegen. Rhonheimer hat Recht, wenn er beklagt, dass diese großartigen Leistungen und Potenziale des Marktes auch in aktuellen Debatten notorisch missachtet werden und das oft gerade von denjenigen, die sich – innerhalb und außerhalb der Kirche – für weltweite Solidarität und Gerechtigkeit einsetzen. Dabei übersehen sie die Möglichkeiten, die eine Marktöffnung auch für die Armen bedeuten kann. Dass zum Beispiel in den letzten 30 Jahren hunderte Millionen Chinesen bitterster Armut entkommen sind, wäre ohne die Hinwendung des kommunistischen Landes zur Marktwirtschaft nicht denkbar gewesen. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Marktwirtschaft ist zwar eine notwendige, aber eben keine hinreichende Bedingung für nachhaltige Armutsbekämpfung und Gemeinwohl. Denn der Markt sorgt zwar für Quantität und Effizienz, aber er hat keinen Sensus für Gerechtigkeit und Menschenwürde. Hier lag bereits die Ursache der Arbeiterfrage, die ganz zu Beginn des kapitalistischen Industriezeitalters im 19. Jahrhundert für gesellschaftliche Unruhen und veritable Revolutionen sorgte. Es ging dabei nicht einfach um die Armut der Industriearbeiter, sondern darum, dass ihnen die Teilhabe an dem neuen Wohlstand verwehrt blieb. Und das hatte sehr wohl mit der Logik des Marktes zu tun. Denn der damalige Arbeitsmarkt war in der Tat völlig frei oder „dereguliert“, wie wir das heute nennen würden. So etwas wie Arbeitszeitgesetze oder Mindestlöhne gab es noch nicht. Der Arbeitsvertrag war vielmehr völlig frei verhandelbar. In dem libertären Märchenland, von dem Rhonheimer uns erzählt, wäre damit also alles in bester Ordnung.

Tatsächlich aber war die schockierende Grunderfahrung dieser Epoche, die in dem Begriff der Arbeiterfrage kondensierte: gar nichts war in Ordnung. Denn wenn ein Wolf und ein Schaf einen Vertrag „frei“ verhandeln, dann bekommt der Wolf am Ende alles und das Schaf behält – mit Glück – sein nacktes Leben. Und das liegt gar nicht in der Bosheit des Wolfes, sondern in der Normativität des Faktischen begründet. Vertragsfreiheit kann es nämlich nur dort geben, wo ein Gleichgewicht zwischen den Parteien herrscht. Ein starkes Machtgefälle hingegen macht einen freien Vertrag unmöglich – so ist das zwischen Wolf und Schaf, und so war das auf dem freien Arbeitsmarkt des 19. Jahrhunderts.

Und an dem Beginn der Geschichte des modernen Sozialstaates stand denn auch genau der Versuch, dieses Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen, indem die Arbeiter als die schwächere Partei des Arbeitsvertrages durch ein staatliches Arbeitsrecht und gesetzliche Mindestarbeitsbedingungen besonders geschützt wurden. Zudem bekamen die Gewerkschaften einen rechtlichen Status und die Tarifautonomie wurde institutionalisiert. Erst dieser Kollektivarbeitsvertrag hat tatsächlich Parität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hergestellt und die Lohn- und Arbeitsbedingungen zum Gegenstand echter Vertragsverhandlungen werden lassen.

Dieses Programm der „Dekommodifizierung“, also der Versuch, den Charakter der Erwerbsarbeit als „Ware“ (engl. „commodity“) aufzuheben, ist integraler Bestandteil des modernen Sozialstaats. Diesen Aspekt lässt Rhonheimer leider völlig außer Acht; für ihn ist der Sozialstaat allein der umverteilende Sozialstaat. Mit Umverteilung hat die Dekommodifizierung aber erst einmal gar nichts zu tun. Es geht vielmehr darum, das zu schützen, was Papst Johannes Paul II. die „ethische Substanz“ und die „subjektive Dimension“ der Arbeit genannt hat – im Gegensatz zur objektiven Dimension, wie sie mit dem rechnenden Denken des Marktes allein erfasst wird.

Von Anfang an war genau das das Programm der katholischen Soziallehre: der Schutz der Menschenwürde unter den Bedingungen der kapitalistischen Wirtschafts- und der industriellen Produktionsweise. Und hier liegt auch die Gemeinsamkeit mit dem Projekt der Sozialen Marktwirtschaft, das aber noch mehr historische Wurzeln hat als die Soziallehre der Kirche.

Rhonheimer hingegen lehnt die Idee, den Begriff und die historisch gewachsene Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft ab. Er plädiert stattdessen für einen absolut freien, völlig unregulierten Markt und einen Minimalstaat ohne jede soziale Verantwortung. Der Kirche empfiehlt er, sich von ihrer Soziallehre zu verabschieden und sich auf „ältere“ staatskritische Traditionen zu besinnen. Dass ihm mit Blick auf diese Traditionen lediglich Autoren einfallen, die schon vor hundert oder mehr Jahren verstorben sind, kann dabei nicht verwundern. Denn am Anfang der katholischen Soziallehre steht genau diese Erkenntnis: dass unter den Bedingungen der modernen Wirtschafts- und Massengesellschaft die Menschenwürde eben nur dann umfassend geschützt werden kann, wenn der Staat als Hüter des Gemeinwohls auch im Sinne eines Sozialstaats auf diese Aufgabe verpflichtet wird.

Das ist nun seit weit über hundert Jahren die Position der katholischen Soziallehre, wie sie seit Papst Leo XIII. und seiner Enzyklika Rerum novarum (1891) von allen Päpsten bis zu Franziskus immer und immer wieder betont worden ist. Wie Rhonheimer angesichts dessen dazu kommt zu bestreiten, dass es überhaupt eine kirchliche Soziallehre gibt, bleibt sein Geheimnis. Wenn die Theologiegeschichte das immer tiefere Vordringen der Kirche in die Geheimnisse der Geschichte von Gott und den Menschen ist, und wenn Fluchtpunkt theologischer Ethik stets der Schutz der aus der Gottebenbildlichkeit fließenden Würde des Menschen war und ist, dann bedeutet die Soziallehre der Kirche eine gleichsam zwingende Fortschreibung dieser Linie.

Dass sich in früheren Epochen noch keine Soziallehre im modernen Sinne findet, ist dabei ein theologisch schwaches Argument. Die ganze Moraltheologie ist eine moderne Entwicklung, ausgehend von dem Bußdekret des Konzils von Trient 1551. Noch schwächer ist das Argument, dass es im 19. Jahrhundert Theologen gegeben hat, die steuerfinanzierte staatliche Sozialleistungen abgelehnt haben. Bis ins 19. Jahrhundert hinein haben viele Theologen auch der Idee der Sukzessivbeseelung des Menschen angehangen. Was bedeutet das heute noch? Richtig: gar nichts. Theologie und Kirche haben solche Irrtümer hinter sich gelassen.

Richtig ist freilich, dass die Soziallehre der Kirche kein politisches Programm ist. Ein Katholik kann deshalb ein staatsskeptischer Liberaler sein oder ein sozialdemokratischer Etatist, ohne dass sein Seelenheil in Gefahr geraten dürfte. Wenn aber Rhonheimer tatsächlich meint, dass der Staat als Sozialstaat die Menschen nicht zur mittelbaren Solidarität mit ihren notleidenden Mitbürgern verpflichten dürfe, wird es meines Erachtens schwierig. Denn das Leben eines Menschen und seine Würde dürfen nicht von Barmherzigkeit und Mitleid seiner Mitmenschen abhängig gemacht werden.

Hier geht es nicht um bloße Tugendpflichten, sondern um Rechtspflichten. Auch die Menschenrechtsdiskussion ist inzwischen über die Sichtweise des 19. Jahrhunderts hinaus. Es gibt nicht nur Freiheitsrechte, sondern auch soziale Menschenrechte, die der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern zu garantieren hat. Für die katholische Soziallehre hat Papst Johannes XXIII. das übrigens schon 1963 in der Enzyklika Pacem in terris betont. Konkret heißt das etwa: Kranke und Behinderte sowie deren Familien haben nicht nur einen moralischen Anspruch, sondern einen menschenrechtlichen Anspruch auf Hilfe und Solidarität. Der Sozialstaat ist in der zivilisierten Welt institutioneller Ausdruck dieses Anspruchs.

Wer hingegen jegliche Form von Sozialstaatlichkeit ablehnt, mag das ja in aller Gesinnungsfreiheit tun, muss dann aber damit leben, insoweit nicht mehr auf dem Boden der kirchlichen Lehre zu stehen. Wer sich deswegen keine Vorwürfe anhören möchte, sollte dann aber seinerseits doch wenigstens darauf verzichten, Papst Franziskus dafür zu kritisieren, dass er immer wieder die soziale Dimension des Evangeliums und die Soziallehre der Kirche stark macht.

Der Autor ist Stellvertretender Direktor an der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe

Themen & Autoren
Friedrich August von Hayek Johannes Paul II. Johannes XXIII. Papst Franziskus Päpste Theologiegeschichte

Weitere Artikel

In einer Zeit, die einen kaum gekannten Ansturm gegen Glaube und Kirche erlebt, wäre es vermessen, nur über den „Alten“ und „Neuen“ Ritus zu diskutieren .
04.03.2023, 17 Uhr
Kardinal Walter Brandmüller

Kirche

Der Vatikan schreibt erneut an den DBK-Vorsitzenden Bätzing und erteilt zentralen Synodalforderungen eine Absage. Der Sprecher der Bischöfe betont, im Gespräch bleiben zu wollen.
30.03.2023, 16 Uhr
Meldung
In der 22. Folge des „Katechismus-Podcasts“ der „Tagespost“ befasst sich Theologin Margarete Strauss mit der Bedeutung des Neuen Testaments, insbesondere der Evangelien.
30.03.2023, 14 Uhr
Meldung
Das Prophetische im Denken wie in der Verkündigung von Papst Benedikt XVI. stand im Fokus einer hochkarätigen Fachtagung im Zisterzienserstift Heiligenkreuz.
30.03.2023, 09 Uhr
Stephan Baier