Dass jemand noch mehr Langeweile und Visionslosigkeit als Angela Merkel ausstrahlen könnte, hätten nur wenige für möglich gehalten. Aber Olaf Scholz ist es gelungen – zumindest was seine Teflonrhetorik anbetrifft. Eine inhaltliche Bilanz der Ampelregierung fällt jedoch nach ihrem ersten Jahr gemischt aus. Nachdem sich die Koalitionäre viel vorgenommen hatten, um allseits die Zeitenwende auch mit Taten zu unterlegen, wurde sie jäh von den Krisen der Welt, insbesondere dem russischen Angriffskrieg eingeholt.
„Wo ist zum Beispiel der Plan zum Ausbau der Bahn
und den CO²-Einsparungen im Verkehrsbereich?
Wann kommen die vielen Sozialwohnungen? “
Pragmatismus lautet seitdem das Gebot der Stunde. Alle müssen dafür irgendwie Limbo tanzen, weit unterhalb ihrer Zielmarken. Die FDP wird zur Schuldenmacherpartei, die Grünen müssen vorläufig mit der Rückkehr der Atomkraft klarkommen. Und die SPD kann nicht über Abstriche beim Bürgergeld hinwegtäuschen, was die Sanktionsmechanismen anbetrifft.
Hinzu kommen allerlei nachwirkende Altlasten. Denn niemand kann eben in wenigen Monaten ausbügeln, was 16 Jahre Merkel zunichte gemacht haben. Ein marodes Schulsystem, ein kaputtgesparter Gesundheitssektor, die verschlafene Digitalisierung, eine energiepolitische Sackgasse und nicht zuletzt Rückschritte im Umbau der Gesellschaft zur Klimaneutralität. All das müssen die höchst ungleichen Partner angehen und doch bleiben sie bislang, gefangen im reaktiven Modus, bei bloßen Ankündigungen. Wo ist zum Beispiel der Plan zum Ausbau der Bahn und den CO²-Einsparungen im Verkehrsbereich? Wann kommen die vielen Sozialwohnungen? Und was hat eigentlich Cem Özdemir für die Agrar- und Tierschutzwende zu bieten außer netten Worten?
Immerhin: eine christliche Einwanderungs- und Asylpolitik
Klar, man kann eine Unmenge kritisieren. Allerdings hat diese Koalition in einigen Fragen auch beachtlichen Mut bewiesen. Sie bekennt sich zu einer menschenwürdigen, christlichen Einwanderungs- und Asylpolitik, sie setzt sich massiv mit humanitärer Hilfe in der Ukraine ein und, was zahlreiche ihr leider zum Vorwurf machen, sie war nicht bei den ersten der Waffenlieferungen. Scholz wurde sein Zögern als Schwäche ausgelegt, man kann es umgekehrt genauso gut als Stärke ansehen. Er handelte besonnen, weder wie ein Kriegstreiber noch wie ein unverbesserlicher Pazifist. Um auch hier die Folgen von Putins Wahn einzudämmen, haben SPD, FDP und die Grünen überdies mehrere Unterstützungspakete für die Bevölkerung geschnürt. Zugegeben, manche eher schlecht als recht, vor allem jene, die nach dem Sprenklerprinzip funktionierten und nicht gezielt bei den Armen griffen.
Die Zeitenwende erlaubt keinen Sparkurs
Das Soziale hat sich trotzdem als die Visitenkarte dieser neuen Regierung erwiesen. Es zu halten und auszubauen, dürfte mit dem angeknaxten Lindner jedoch schwer werden. Obwohl der Investitionsstau der Bundesrepublik gigantisch ausfällt, vernimmt man schon wieder die Unkenrufe zum Sparen. Wieder muss die nächste Generation, für die sich ansonsten nie jemand interessiert (sonst würde man deutlich entschiedener gegen den Klimawandel vorgehen), rhetorisch herhalten, damit die Wirtschaftspolitik der 90er wieder in der Mikro warm gemacht werden kann. Nein, auch wenn ein ausgeglichener Haushalt in den kommenden Jahren gut aussehen mag, den Umständen der Zeitenwende würde er nicht gerecht. Der Regierung mag man daher raten: Bleibt bei euren hehren Ziele. Nichts anderes braucht dieses Land.
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