Mit den "Letzten Tagen der Menschheit", einem monumentalen Theaterfresko, das nach den Worten seines Autors einem "Marstheater" zugedacht sei, da eine hypothetische Aufführung gute 24 Stunden dauern würde, hat Karl Kraus ein überzeugendes Plädoyer gegen den Krieg geschaffen, das seinesgleichen sucht. Bereits während des Ersten Weltkrieges, im Jahre 1915, begann er mit der Niederschrift der rund 220 Szenen, in denen er mit beißender Schärfe Ereignisse im "Hinterland" und an den Kriegsschauplätzen schildert, von denen er sagt, dass er nichts erfunden habe. Er bezog seine Inspiration direkt aus dem Leben, aus Dialogen, die er auf der Straße aufgeschnappt hat, aus Berichten der von ihm wenig geschätzten Presse sowie aus Photos, die ihm in die Hände kamen.
„Zu glauben, dass man welche Art von Problemen oder Konflikten
auch immer durch blutige Kriege lösen kann,
fällt wohl nur Menschen ein, denen es an Empathie
und echten Erfahrungen der Liebe gebricht“
100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, im Jahr 2014, hatte ich die Gelegenheit, das gesamte, ungekürzte Werk an 16 Lese-Abenden in einem Wiener Theater zu präsentieren, und zwar genau so, wie der Autor selbst es gehalten hatte: als alleiniger Interpret der insgesamt mehr als 1.100 Personen, die die Szenen bevölkern. Seither gastierte ich mit Auszügen daraus im In- und Ausland, darunter auch in Kiew, wo mir im Rahmen des "Monodramen-Festivals" am dortigen Koleso-Theater dafür der Publikums-Preis zuerkannt wurde.
Bosheit, Dummheit und nicht zuletzt sämtliche sieben Todsünden vernebeln den menschlichen Verstand und verleiten die Protagonisten zu Handlungen, in denen keine Spur von Menschlichkeit mehr zu erkennen ist und die apokalyptische Zustände verursachen, die den plakativen Titel des Stücks zu rechtfertigen scheinen. Falsche Einschätzungen der Lage, kleine Ursachen mit unabsehbaren Folgen, Appelle an die niedrigsten menschlichen Instinkte ergeben zusammen einen explosiven Cocktail, dem sehr bald nicht mehr beizukommen ist.
„Der Schoß ist fruchtbar noch ...“
Die Parallelen zu den Ereignissen, die die Welt seit Ende Februar dieses Jahres in Atem halten, sind leider nicht zu übersehen. Nachdem der erste Weltenbrand des Zwanzigsten Jahrhunderts nach einem zwanzigjährigen Waffenstillstand in die zweite Runde ging, hieß es nach dessen Ende folgerichtig "Nie wieder Krieg!". Auch bereits während des zweiten Weltkriegs entstand 1941 ein Theaterstück, "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" von Bert Brecht, in dem es unter anderem hieß "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch!", was seither kaum jemand wirklich wahrhaben will. Und doch stehen wir nun fassungslos vor einer Realität, die zumindest der "Normalbürger" wohl kaum für möglich hätte halten wollen.
Der Wahnsinn des Krieges hält neuerlich Einzug auf europäischem Territorium und als ob es nicht schon genügend Probleme auf der Welt gäbe, müssen wieder Hunderttausende Unschuldige für die fehlgeleiteten Wahnvorstellungen eines Einzelnen beziehungsweise einiger Weniger einen unermeßlichen Preis bezahlen. Wieder einmal müssen sich alle Gläubigen wohl die Frage stellen "Wo bleibt Gott?", auf die sie keine befriedigende Antwort finden können, während sich jene, die es immer schon gewusst haben wollen, dass es "Ihn" nicht gäbe, wohl bestätigt fühlen. Dieser Gott kommt übrigens am Ende des Dramas auch zu Wort: "Ich habe es nicht gewollt!"
Krieg ist niemals ein Mittel zur Lösung von Problemen
Das Stück von Karl Kraus beginnt relativ harmlos mit Zeitungsausrufern, die rasche Siege der eigenen Seite verkünden. Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass das erste Opfer eines jeden Krieges die Wahrheit ist. Aus der Entfernung von mehr als hundert Jahren kann man heute über die eine oder andere Szene vielleicht schmunzeln, wer Wien und die österreichische Geschichte gut kennt, wird Zusammenhänge erkennen, die sich anderen vielleicht nicht sofort erschließen. Doch niemand wird die unwiderlegbare Einsicht von sich weisen können, dass Krieg niemals ein probates Mittel zur Lösung jedwelchen Problems sein kann.
Ein regelrechtes Panoptikum schräger und weniger schräger Figuren bevölkert die imaginäre Bühne, Wortwitz und surrealistisch anmutende Situationen erreichen die Ohren des staunenden Publikums, doch auch Dialoge über das unfassbare Grauen an der Front bleiben ihm nicht erspart. Bisher wurden zwar einige der markantesten Auszüge dieses in der Weltliteratur seinesgleichen suchenden Theaterstücks tatsächlich auch szenisch umgesetzt, zuletzt in besonders eindrucksvoller Form durch Paulus Manker in der sogenannten "Serbenhalle" in Wiener Neustadt, doch wird es wohl tatsächlich niemals möglich sein, das gesamte Stück auf eine noch so perfekte Bühne zu bringen. Dies erscheint aber auch gar nicht notwendig, die Worte sprechen eine eindrückliche Sprache.
Trotz aller Erkenntnis gibt es weiterhin Krieg
Wäre es doch möglich, mit menschlichen Worten zu verhindern, was nun wieder einmal in unserer unmittelbaren Nähe geschieht! Karl Kraus hat getan, was er konnte, und das ist durchaus nicht wenig. Dennoch kam es zum Zweiten Weltkrieg, dennoch gibt es seither weiterhin Kriege auf der ganzen Erde. 2015 gastierte ich mit meiner Lesung mit ausgewählten Szenen aus den "Letzten Tagen der Menschheit" in Wolgograd, dem ehemaligen "Stalingrad", der Stadt, in der die wohl grauenhafteste Schlacht der Menschheitsgeschichte stattgefunden hatte, bei der 1942/43 in rund 200 Tagen eine Million Menschen den Tod fanden, darunter auch mein Onkel, der jüngere Bruder meines Vaters. Die Stadt, die damals dem Erdboden gleichgemacht worden war, ist bis heute von diesem Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte durch und durch geprägt.
Es gibt dort ein eindrucksvolles Panorama-Museum, in dem die erwähnte Schlacht in faszinierender Weise lebensnah dargestellt wird, sodass sich der Besucher mitten in die Kriegsgeschehnisse hinein katapultiert wähnt. Ich dachte mir damals, dass jeder Politiker der Welt vor Ablegung seines Amtseides diesem Museum verpflichtend einen Besuch abstatten müsste. Keinem sollte es danach eigentlich mehr möglich sein, die Eventualität eines blutigen Krieges auch nur in Erwägung zu ziehen. Nun müssen wir hautnah miterleben, wie solche Ideen offenbar noch für längere Zeit Makulatur bleiben müssen. Die Germanistik-Studenten dieser Stadt, die meiner Lesung folgten, bildeten wohl das verständnisvollste Publikum, das mir bei meinen Lesungen bisher begegnet ist. Ich spürte, wie betroffen sie die Schilderungen der Grauen des Ersten Weltkrieges machte und wie gut sie Karl Kraus verstanden.
Riesige Summen Geldes werden für Krieg „verpulvert“
Noch immer werden auf dieser Welt Unsummen von Volksvermögen in die Produktion technisch hochentwickelter todbringender Maschinen und Gerätschaften investiert, die eines Tages einer zweckentsprechenden Verwendung zugeführt werden möchten, während eine zweifellos erkleckliche Anzahl hochsensibler und hochbegabter Menschen, die keinen anderen Lebenszweck verfolgen, als andere Menschen durch ihre Kunst zu erfreuen, am Rande des Existenzminimums darben und von den Starken und Mächtigen bestenfalls mitleidig belächelt werden, obwohl sie es sind, die die Würde des Menschengeschlechts in Wahrheit hochhalten. Was geht in Menschen vor, denen Kirchen, Museen, Theater oder Opernhäuser als legitime Ziele eines Bombenangriffs erscheinen?
100 Jahre sind seit dem Ersten Weltkrieg vergangen, bisher scheinen die "Letzten Tage der Menschheit" trotz allem noch nicht angebrochen, auf der ganzen Welt werden weiterhin Kinder geboren, bemühen sich weiterhin abseits jeglicher Öffentlichkeit im Verborgenen einzelne Menschen um die Entfaltung ihrer Talente, um die Lebenszeit, die jedem menschlichen Geschöpf zugedacht ist, so erfreulich wie irgend möglich zu gestalten. So unterschiedlich die Lebensbedingungen in den verschiedenen Regionen der Erde auch sein mögen, finden sich doch überall auch Wesen, denen es Dank göttlicher Inspiration, die man eigentlich nur zulassen muss, gelingt beziehungsweise die zumindest versuchen, aus den vorgefundenen Gegebenheiten das Beste zu machen. Zu glauben, dass man welche Art von Problemen oder Konflikten auch immer durch blutige Kriege lösen kann, fällt wohl nur Menschen ein, denen es an Empathie und echten Erfahrungen der Liebe gebricht. Die Frage nach den geheimnisvollen Zusammenhängen zwischen Sein und Haben dürfte dabei eine vielleicht nicht ganz unwesentliche Rolle spielen.
Martin Ploderer, geboren 1959 in Wien. Zahlreiche Auftritte als Schauspieler in Filmen und auf der Bühne.
Die Lesung "Die letzten Tage der Menschheit" (Karl Kraus), gelesen von Martin Ploderer,
ist erschienen im Mono-Verlag und gelangte auf Platz 1 der Hörbuchbestenliste des Hessischen Rundfunks hr2.
Die Aufnahme kann als CD-Box mit 18 CDs (1.300 Minuten) direkt bei ihm bestellt werden:
mp@martinploderer.at Die Hälfte des Preises von ca. 80 EUR wird vom Sprecher an eine noch zu bestimmende Ukraine-Hilfe überwiesen.
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