Berlin

Das Ringen der Ideen wird zum Kampf auf der Straße

Wer davon lebt, die integrative Kraft der Gesellschaft zu zerstören, indem er Werte, Tradition und Sprache diffamiert und verbiegt, wird nichts weiter hervorbringen als den Zerfall.
Anti-Corona-Maßnahmen Demonstration in Berlin
Foto: dpa | "Wir sind mehr" mal anders? Die Demonstration vom 1. August in Berlin hat bei manchen Politikern und Journalisten Fragen und Zweifel ausgelöst.

Sucht man nach einer medizinischen Metapher für die Selbstzerstörung der westlichen Welt, bietet es sich an, von einer Autoimmunerkrankung der Gesellschaft, die mit einem beispiellosen Furor gegen ihre eigenen Bindekräfte ankämpft, zu reden. Die letzte Idee der Ideenlosen, des Furors, manifestiert sich in der Beschwörung einer imaginären Mehrheit. Wenn als Beweis für die Richtigkeit der ideologischen Prämissen der eigenen Politik lediglich ein behauptetes „Wirsindmehr“ traktiert wird und die Möglichkeiten von Parteien, Gewerkschaften und teils vom Staat mitfinanzierten NGOs Massendemonstrationen als Machtbeweis zur Einschüchterung der Andersdenkenden organisiert werden, dann spielen Argumente und der freie Wettbewerb der Ideen keine Rolle mehr.

Der herrschenden Klasse mangelt es an tragfähigen Ideen

Der Zusammenhalt einer freien Gesellschaft gründet hingegen auf der Respektierung anderer Vorstellungen über die Entwicklung der Gesellschaft und auf der Akzeptanz von Minderheitenpositionen. Wie sehr die neue herrschende Klasse aus Politik, Medien, Kultur und der Finanzwirtschaft auf dem Standpunkt des „Wirsindmehr“ aus Mangel an tragfähigen Ideen für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft im 21. Jahrhundert beharren muss, zeigen die panischen Reaktionen auf die Demonstration in Berlin am 1. August.

Man mag von dieser Demonstration halten, was man will, und sicher verlangt ein Großereignis dieser Art eine differenzierte Betrachtung, doch was die neue herrschende Klasse zutiefst erschreckt und verunsichert ist, dass sie zum ersten Mal auf dem Terrain ihres „Wirsindmehr“-Marketings eine Niederlage einsteckt. Abseits der Demonstrationslogistik rotgrüner Parteien, Gewerkschaften und NGOs demonstrierten in Berlin wohl hunderttausende Menschen für die Freiheit und die Selbstbestimmung gegen die staatsbonapartistischen Gebaren der Merkel-Regierung.

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Würde in den Medien und in den bürgerlichen Parteien noch eine offene Diskussion unterschiedlicher Standpunkte stattfinden, dann bedurfte es des verhängnisvollen Mechanismus der Demonstrationen und Gegendemonstrationen nicht. Je stärker sich die politischen Auseinandersetzungen aus den Parteien, den Medien und der Kultur deshalb auf die Straße verlagern, umso unvermeidlicher wird der demokratische Diskurs von dem verdrängt, was die Marxisten Klassenkampf nennen.

Unsere Gesellschaft konnte den Zusammenhalt befördern

Der Erfolg unserer Gesellschaft besteht darin, dass sie über das Betriebsverfassungsgesetz und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, durch die Pluralität der Medien und die Diskussionskultur der Parteien, auch durch die Binnenpluralität der Verlage, durch eine Familienpolitik, die Ehe und Familie privilegierte, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu befördern vermochte.

Doch der Versuch der sich als Elite fühlenden Politiker, Medien- und Kulturschaffenden, die große Transformation durchzusetzen, die der Politikwissenschaftler Yasha Mounk mit den Worten beschrieb, dass in einem „historisch einzigartigen Experiment.... eine monoethnische, monokulturelle Demokratie in eine multiethnische“ per ordre de mufti umgestaltet wird, schafft keine neue Gesellschaft, sondern zerstört nur unsere, indem sie die Sehnen der Gesellschaft durchschneidet.

„Mit der Entstehung von rechtsfreien Räumen (...)
verliert die Staatsgewalt an Legitimität“

Um zu begreifen, was eine Gesellschaft zusammenhält, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, was man unter Staat als Organisationsform der Gesellschaft versteht. Nach dem Staatsrechtler Georg Jellinek wird der Staat gebildet von einem Staatsvolk, das auf einem Staatsgebiet lebt und sich einer Staatsgewalt unterstellt. Man könnte auch sagen, dass ein Staat über ein durch Grenzen gesichertes Territorium verfügt, denn ohne Grenzen wird er seine hoheitlichen Aufgaben, die im Begriff der Staatsgewalt zusammengefasst sind, nicht erfüllen, denn ein Staat ist nur dann Staat, wenn er erstens souverän darüber entscheiden kann, wer die Grenzen des Staates passieren darf, und zweitens Recht und Gesetz in uneingeschränktem Maße innerhalb der Grenzen durchzusetzen Willens und in der Lage ist. Allein mit dem Verzicht auf den Schutz der Grenzen und der souveränen Entscheidung darüber, wer Zutritt zum Staatsgebiet hat und wer nicht, wie es seit 2015 als Doktrin der Merkel-Regierung umgesetzt wird, werden bereits die Elemente des Staatsgebietes und der Staatsgewalt so weit ausgehöhlt, dass sie schwerlich noch aufrechterhalten werden können. Mit der Entstehung von rechtsfreien Räumen und mit der Etablierung von zweierlei Recht, mit der Akzeptanz beispielsweise von Friedensrichtern, die sich auf die Scharia berufen, verliert die Staatsgewalt an Legitimität.

Man erlebt die Auflösung des Staates

Die große Transformation, von der Angela Merkel in Davos gesprochen und die Yasha Mounk zuvor in der ARD beschrieben hat, die grenzenlose Einwanderung in das begrenzte Sozialsystem Deutschlands, löst das Staatsvolk auf. Hält man sich an die gängigen staatsrechtlichen Definitionen, erlebt man gegenwärtig die Auflösung des Staates, die man im Übrigen durch die „Vertiefung der europäischen Einigung“ aufzufangen wünscht.

Doch was macht das mit der Gesellschaft? Eine Gesellschaft wird begründet durch eine gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte, Tradition und gemeinsame Werte. Diese konstitutiven Elemente bildeten sich in langen Prozessen in großen Zeiträumen heraus.

Bürger- und Menschenrechte werden füsiliert

Wenn man also die Geschichte einer Gesellschaft durch eine absurde Crime Story zu ersetzen sucht, indem man diejenigen, die in Jahrhunderten an der großartigen Entwicklung Europas mitgewirkt haben, zu Rassisten, zu Antisemiten, zu Kriminellen zu machen versucht, wenn man die großen Aufklärer, die zu ihrer Zeit als einzige auf der Welt das stolze sapere aude und die Bürger- und Menschenrechte formulierten, vor das Standrecht der Politisch Korrekten stellt, dann füsiliert man nicht nur die Aufklärung, sondern mit ihr die Bürger- und Menschenrechte. Damit werden die Grundwerte der Gesellschaft, die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit außer Kraft gesetzt, modern formuliert: die bürgerliche Freiheit, wie sie im Grundgesetz festgehalten ist, die Gleichheit in Form des gleichen Rechts für alle und des gleichen Zugangsrechts für alle zu allem.

Erinnerung: Demonstrationsrecht ist vom Grundgesetz geschützt

Mit der Quotierung endet jede Gleichheit vor dem Gesetz und des Zugangs zu den Institutionen des Staates und der Wirtschaft. Wer positive Diskriminierung betreibt, diskriminiert, wer diskriminiert, begibt sich auf die schiefe Bahn der Ungleichheit und endet in der Apartheid oder sogar in einem neuen Rassismus. Die Behauptung, dass es keinen Rassismus gegen Weiße geben kann, ist im Kern selbst rassistisch. Die Kampagne, die von den Linksliberalen um den Philosophen John Rawls ausgeht, die Gesellschaft in Opfergruppen aufzuspalten, desintegriert Gesellschaft, sie teilt Menschen in willkürlich definierte Menschengruppen und trachtet, sie in den Kampf gegeneinander zu bringen. An die Stelle der Gesellschaft tritt der Kampf aller gegen alle.

Wenn der Vorsitzende der AG Migration in der SPD, Azis Bozkurt, mit Blick auf die Demonstration vom 1. August 2020 twittert: „Ich fordere: härtere Gesetze, um diese Lebensgefährder abschieben zu können. Egal wie. Egal wohin. Einfach raus aus meinem Land“, redet er der Desintegration das Wort. Illegal eingewanderte Migranten werden nicht abgeschoben. Doch Azis Bozkurt möchte deutsche Bürger, die nichts anderes taten, als ihr grundgesetzverbrieftes Demonstrationsrecht wahrzunehmen, ausweisen. Der Sozialdemokrat vergisst, dass dieses Land nicht nur sein Land, sondern auch das der Demonstranten ist. Wo geraten wir als Gesellschaft hin, wenn die Mitglieder dieser Gesellschaft sich um den Besitz des Landes streiten? Will Bozkurt wirklich die Frage zur Diskussion stellen: wessen Land ist das Land?

Hat die Gesellschaft noch genügend zivilisatorische Kraft?

Wer davon lebt, die integrative Kraft der Gesellschaft zu zerstören, weil er Werte, Tradition und Sprache der Gesellschaft diffamiert, kriminalisiert und verbiegt, wird nichts weiter hervorbringen als den Zerfall. Die Gerechtigkeit bedarf des Rechts, das für alle gilt, bedarf einer Regierung, die sich an die eigene Legitimität hält, der Zugangsgleichheit zu allem ohne Quote, bedarf einer Familienpolitik, die nicht die Förderung der NGOs in den Mittelpunkt stellt, sondern den Schutzes von Ehe und Familie, denn aus den Familien heraus entsteht die Gesellschaft, und sie bedarf einer Bildungspolitik, die nicht darauf ausgerichtet ist, Bildung zu verhindern.

Besitzt die Gesellschaft genügend zivilisatorische Kraft, über den neuerlichen Ansturm des Irrationalismus zu siegen, oder hat sie ihre Vitalität verloren? Finden wir zu einem neuen, alten Selbstbewusstsein, zu einer produktiven Dynamik, die Geschichte und Zukunft in der Gegenwart verbindet?

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