Es gibt Dinge, die gehören unausgesprochen zum Intellektuellenkodex. Demnach ist Picasso ein großer Maler, Schönberg ein großer Komponist, Joyce ein großer Schriftsteller. Wer nicht als geistig minderbemittelt gebrandmarkt werden will, darf nicht daran rütteln. Die linksliberale Intelligenzija hat sie auf den Sockel gehoben und für unberührbar erklärt. Ungeachtet der künstlerischen Verdienste der drei Geistesheroen verbindet sie auf jeden Fall eines: Sie waren große Zerstörer. Schönberg zerstörte mit der Zwölftonleiter unsere Hörgewohnheiten, Picasso spätestens in seiner kubistischen Phase unsere Sehgewohnheiten und Joyce unser bis dato gängig-gültiges Sprachverständnis. Immerhin, Schönberg, Picasso und Joyce gelten als Pioniere, und allen, die sie später zu imitieren versuchen, muss das Etikett epigonaler Verschleiß anhaften. So auch Arno Schmidt, dessen Verehrung in den sonst eher dogmenfeindlichen Intellektuellenkreisen Dogma ist. Nach seinem eigenen Selbstverständnis hätte man ihm gewiss Kränze flechten müssen wie Goethe, Schiller oder Thomas Mann.
Der Hamburger Polizistensohn Schmidt, der ab 1928 in Schlesien lebte, trat in seiner Jugend in Breslauer Lokalen als Gedächtniskünstler auf, der zahlreiche ihm zugerufene Telefonnummern im Kopf behalten, von hinten nach vorn aufsagen und miteinander multiplizieren konnte. An der Breslauer Universität studierte er Mathematik und Astronomie, brach jedoch 1933 das Studium ab und bildete sich selbst weiter. „Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte wie ich!“, ist eine Aussage, die er auf der Klaviatur seines ausgeprägten Selbstdarstellungstriebes gern herunterspult, und die eigentlich nur ein graues Abbild seiner gespielten Arroganz zeigt, die er auch oft auf Porträtfotos aufsetzt, wenn er durch sein dickwandiges Kassengestell angestrengt streng von oben nach unten guckt. „Schmidt ist verliebt in Ziffern, Atlanten, Lexika, Statistiken, Messtischblätter, Staatshandbücher und Nachschlagewerke, ihn faszinieren Bibliotheken und Archive, Zettelkästen und Kartotheken, sein Vertrauen zu der Macht der Zahlen, Daten und Tabellen kennt offenbar keine Grenzen“, tadelte Marcel Reich-Ranicki. Nun lobt das Feuilleton, das den 100-jährigen Schriftstellerdarsteller Arno Schmidt zu seinen Lebzeiten eher verachtete – und das er ebenso sehr verachtete –, zu seinem 100sten als „Groß-“ und „Jahrhundertschriftsteller“.
Zu Recht? Schmidts Büchern fehlt die Seele. Sie sind geschrieben „mit Schaum vor dem Mund“ (Reich-Ranicki, 1967). Doch Durch- und Überblicker Schmidt duldet in gediegener pseudomarxistischer Betonköpfigkeit keinen Widerspruch: „Unsere abendländische Kultur, auf Altertum und Renaissance beruhend, ist im härtesten Kampf gegen die ausgesprochen kulturhemmenden Kräfte des Christentums entstanden!“ – Seine dreist-kritische Analyse erstarrt gravitätisch in narzisstischer Selbstbelämmerung: „Ich?: Atheist, allerdings!: Wie jeder anständige Mensch!/ Wenn ich tot bin, mir soll mal Einer mit Auferstehung oder so kommen...“ Der früher populäre Literaturwissenschaftler und Kritiker Hans Egon Holthusen hatte so sehr Unrecht nicht, wenn er Schmidt „ein lärmendes Umsichschlagen gegen Gott und die Welt und alles, was an Gesellschaft und Kultur noch übriggeblieben ist“ attestierte. Wenn Schmidt etwas vorweggenommen hat, war es die narzisstische Störung der Postmoderne, da stülpt sich ein „wölfisch-kauziger Einzelgänger“, ein „literarischer Tapir, ein Gedanken-Faun“, den Goethe-Kopf auf und kaspert mit „mephistophelischem Grimm“ herum, doch erst selbst wenn er sich als „zorniger Kleingärtner“ begreift, der versucht, die große weite Welt gegen die gesellschaftliche Misere, die kleinbürgerliche Idylle auszuspielen, ist eine unscharfe Selbsterkenntnis, von zartem Verstand getragen, erkennbar. Schon zu seinen Lebzeiten kursierte die pathetische Arno-Schmidt-Legende vom verkannten Meister, der entsagungsvoll im kleinen Bargfeld, im Naturpark Südheide, bei Celle, in einem armseligen Holzhaus für sein Werk lebt, und dessen Größe die undankbare Nation nicht zu würdigen weiß.
Schmidts Stil ist gewöhnungsbedürftig. Seine Textkörper tragen Blei in den Knochen. Entweder gerät ihm die Metapher zur kryptischen Sprachbombast: „Jeden Morgen verwandelt man sich vermittelst Chemikalien, Wasser & Seife, aus einem spreizhaarigen fettigen Troll in ein glattköpfig=kühles Gedankenwesen“, so in „Die Gelehrtenrepublik“ (1957). In diesem Roman will er die Welt vom Jahre 2008 aufzeichnen, doch seine Figuren reden wie Kleinbürger in den 50ern, behaftet mit den Ängsten dieser Zeit. Der „Gelehrtenrepublik“ zufolge ist Europa 2008 längst „zerstrahlt“ und von der deutschen Bevölkerung sind nur noch einhundertvierundzwanzig Menschen übrig geblieben. Hier hätte der in Mysterien und Mystik eingeweihte Joyce wenigstens die Zahl 144 genommen, nicht nur wegen der 144 000 Versiegelten der Johannes-Offenbarung. Schmidt geht alles mit einer kruden Rationalität an, die nur effekthascherisch Kopffüßler in die grauen Auen verteilt.
Die Schmidtsche Metaphorik kann ihre expressionistische Herkunft nicht leugnen. Typisch die Dynamisierung der Landschaft und die ständige Personifikation der Naturphänomene. Ansonsten erweist er sich als kreuzbraver Epigone von James Joyce, ohne dessen Meisterschaft nur im Ansatz zu erreichen. Der Ich-Erzähler seines 1953er Kurzromans „Aus dem Leben eines Fauns“ sagt, sein Leben sei „kein Kontinuum“, sondern „ein Tablett voll glitzernder snap-shots“. In Arno Schmidts „Berechnungen I“ heißt es, ein „epischer Fluss“ existiere im Grunde nicht, stattdessen nur ein „Tagesmosaik“, denn: „Die Ereignisse unseres Lebens springen vielmehr. Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen Langeweile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht. Von Mitternacht zu Mitternacht ist gar nicht ,1 Tag‘, sondern ,1 440 Minuten‘ (und von diesen wiederum sind höchstens 50 belangvoll!).“ – Das hatten Joyce, als auch Döblin (den Schmidt, wie Grass, ein Vorbild nennt, aber nur den frühen), wesentlich stringenter formuliert und verwirklicht. Ebenso Proust oder Benn.
Schmidt sieht also die Welt in Pixeln. Ihn faszinieren Einzelheiten, größere Zusammenhänge entgehen ihm, mit höheren Weisheiten muss man ihm erst gar nicht kommen. Zudem sind Schmidts Vorstellungen von der Welt dezidiert antidemokratisch und elitär, was eigentlich bei unseren konsensverliebten Eliten Verdacht hervorrufen müsste. Auch seine Frauen- und Mädchenfiguren sind als hausfrauliche Dummchen konstruiert. Sie sind simpel und nicht sehr reizvolle Geschöpfe. In den in „Kühe in Halbtrauer“ (1964) zusammengefassten Erzählungen taucht hin und wieder ein mit teutonischem Charme beschriebener intellektueller Frauentyp auf, eine Psychologin etwa oder eine Germanistin, doch sie sind dem jeweiligen Helden immer unterlegen. Der Mann als solcher ist im Schmidtschen Werk Schriftsteller oder Journalist, Archivar oder Landvermesser, zuweilen heißt er sogar „Schmidt“, na, wie auch sonst. Er ist ein einsamer Streiter, seiner Umgebung absolut überlegen, was er in pfauenhafter Selbstdarstellung jedem, der es nicht hören will, zu verstehen gibt. Das hat Auswirkungen auf das Ganze. „Ich selbst hab' ja nichts erlebt – was mir übrigens gar nichts ausmacht; ich bin nicht Narrs genug, einen Weltreisenden zu beneiden, dazu hab' ich zuviel im Seydlitz gelesen oder im Großen Brehm. Und was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover“ („Trommler beim Zaren“) – so hätte auch Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel am Tresen daherschwallen können.
Überdimensionaler Roman in drei Spalten verfasst
Endgültig verhoben hat er sich mit „Zettels Traum“, ein spröd erotomanischer Pennälertraum, der an Joyce's Monumentalwerke „Ulysses“ und „Finnegans Wake“ nicht im Geringsten heranreicht. „Zettels Traum“ spielt wie „Ulysses“ an einem einzigen Tag und erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem alternden Schriftsteller Daniel Pagenstecher und der sechzehnjährigen Franziska Jacobi in der Lüneburger Heide und vom Leben und Werk Edgar Allan Poes. Schmidt entwirft eine psychoanalytische Literaturtheorie, was sich in der Rechtschreibung widerspiegelt. Aus Kriemhild wird „Creamhilled“, aus einem Plisseerock ein „Pleas’see=Rock“. Seine Begegnung mit der Welt der Psychoanalyse muss sehr notdürftig gewesen sein. Auf jeder Seite sind drei Spalten, von denen die mittlere das reale Tun, Erleben und Reden der Figuren des Romans darstellt, die linke Zitate aus den Werken Poes, die die Figuren des Romans aktuell assoziieren, und die rechte die Etyms, die persönlichen Einfälle, Assoziationen und Gedankenspiele des Protagonisten Pagenstecher. Dieses Schriftbild ließ sich nicht mehr satztechnisch realisieren, weshalb der Roman als photomechanische Kopie der 1 330 DIN-A3-Seiten des Typoskripts veröffentlicht wurde. 2010 brachte Suhrkamp eine gesetzte Ausgabe auf den Markt. Über seinen Zeithorizont für die wahre Wirkung von „Zettel's Traum“ sagte er zu seinem Sponsor Reemtsma: „In zwei-, dreihundert Jahren wird dieses Buch die Regel sein“. Auch das wird sich in einen schauerlichen Irrtum verkehren.
Immerhin hatte Schmidt kurz vor seinem Tod in Millionärssohn Jan Philipp Reemtsma einen Mäzen gefunden, der ihn 1977 mit 350 000 DM, dem Betrag des Literatur-Nobelpreises, unterstützte und seither mächtig für seinen Nachruhm sorgt. Mitunter trug die Halsstarrigkeit des 1979 verstorbenen Schriftsteller durchaus humoristische Züge, öffentliche Lesungen gab er nicht, eine Einladung zum Schriftsteller-Treffen der Gruppe 47 schlug er mit dem Hinweis aus, er eigne sich schlecht als „literarisches Mannequin“. Das macht ihn eigentlich nicht unsympathisch.
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