Der christliche Alltag ist eine vertrackte Sache. Der Herr hat uns dazu aufgerufen, ihm nachzufolgen, alles liegen und stehen zu lassen, unser Hab und Gut zu verkaufen, Eltern und Freunde zu verlassen und uns auf den Weg zu machen. Er erwartet von uns, dass wir unser Leben radikal ändern, dass wir jeden Atemzug in Gebet verwandeln, dass wir den Stoff des Lebens vergeistigen. Kurz: Christus wünscht sich, dass wir unseren Alltag heiligen. Das ist, so teilen uns die Evangelien unmissverständlich mit, der sichere Weg ins Himmelreich.
Mit der Erfüllung der Sonntagspflicht kann es ganz offensichtlich nicht getan sein, wenn es um die Imitatio Christi geht. Doch woher nimmt man als Christ die Kraft für diese konsequente Christus-Nachfolge, die ja bekanntlich der harte, steinige und enge Weg ist? Wo schöpft man Mut in den Anflügen der Verzweiflung, für die unsere Welt ständig Anlass gibt? Man schöpft aus den Sakramenten, und vor allem aus zwei Quellen: aus der Eucharistie und aus dem Gebet. Die Eucharistie ist Begegnung mit dem Heiligen, das Gebet ist die Hineinnahme dieses angeschauten Heiligen ins eigene Herz. Der geheiligte Alltag ist, wenn man so will, erst das Ergebnis, das Resultat, die Emanation dieser doppelten, in sich verschränkten und sich in der Verschränkung verstärkenden Bewegung. Ohne eine Liturgie, die dieses Anschauen und Erleben des Heiligen leistet, droht der Alltag in sich zusammenzufallen wie eine morsche Hütte. Ohne eine Liturgie, die eine Gottesbegegnung ermöglicht, kann auch das Gebet nicht zu seiner inneren Wirklichkeit finden. Dann bleibt es leer, weil Ich-bezogen.
Doch welche liturgische Form kann das leisten? Und: Hat das zweite Vatikanische Konzil mit den Liturgiereformen, die sich aus ihm ergaben, die Linie zwischen dem Heiligen und dem Profanen verwischt und damit auch das Fundament des christlichen Alltags angegriffen? Das sind die Ausgangspunkte von Martin Mosebachs Essaysammlung „Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind“, die erstmals 2002 im Wiener Karolinger Verlag erschien und die heute in einer leicht erweiterten Fassung im Hanser-Verlag zugänglich ist. Das Buch ist keine systematische Theologie, sondern es besteht aus Vorträgen und Gelegenheitstexten. Das ändert jedoch nichts an seiner Durchschlagskraft. Viele halten es sogar für Martin Mosebachs wichtigstes, weil persönlichstes Werk. Der 1951 in Frankfurt am Main geborene Büchner-Preisträger, Romancier (zuletzt: Das Blutbuchenfest, 2014) und Essayist (Als das Reisen noch geholfen hat: Von Büchern und Orten, 2011) verteidigt in diesen Aufsätzen die These, dass die nach-konziliare Liturgie einen hermeneutischen Bruch in der Kirchengeschichte darstellt. Sie sei nicht mehr im Stande, das zu leisten, was die Aufgabe einer jeden Liturgie sei: das Heilige sichtbar zu machen. Und zwar nicht deshalb, weil die Priester nicht mehr guten Willens wären, sondern vielmehr deshalb, weil der gute Wille des einzelnen Priester in der sogenannten „neuen“ Messe geradezu konstitutiv wird. Das Heilige wird menschenabhängig.
Die überlieferte römische Liturgie ist gleichsam ein Fernrohr, mit dem sich der Mensch Gott nähert. Sie offenbart, indem sie verbirgt. Die nachkonziliare Liturgie ist das Gegenteil. Sie gleicht einem Spiegel, in dem sich der Betende und die Gemeinde selbst betrachten und bespiegeln. Sie verbirgt also, indem sie offenbart. Denn der Mensch tritt an die Stelle des Herrn. Der Selbstgewinn tritt an die Stelle des Opfers. Das entscheidende Argument für die römische Liturgie ist daher nicht, „überliefert“ zu sein und damit irgendwie überhistorisch. Auch der alte Ritus war – und das weiß Mosebach natürlich – historischen Formungen unterworfen. Aber in diesen Umformungen blieb diese Liturgie sich wesenhaft gleich als eine Liturgie der Offenbarung durch Verhüllung. Der Bruch geschah, als diese Theologie und alle Zeichen, die ihr zugeordnet sind und die für den Betenden einen Weg zu Gott formen („Knien, Stehen und Gehen – Vom richtigen Verständnis der ,Tätigen Teilnahme‘“), radikal in Frage gestellt und in eine Theologie des ostentativen Zeigens, der Einbeziehung und der Zurschaustellung umgeformt wurden.
Das führt und differenziert Mosebach weiter aus: Die „alte“ Messe ist objektives Geschehen, dem sich auch der Priester unterwirft. Sie hat also keinen „Autor“, kein menschliches Subjekt, dem sie sich verdankt. In ihr wirkt vielmehr ein heiliges Gesetz. Auch markiert sie einen Raum des Sakralen, in den der Mensch eintreten und aus dem er auch wieder in den Alltag heraustreten kann, einen Raum, in dem das Heilige anschaulich wird, ohne sich letztlich preiszugeben. Die Liturgiereform hat aus diesem Kultus ein schauspielähnliches und leider auch manipulierbares Geschehen gemacht, das die aktive Mitwirkung des Priesters verlangt und dadurch den Anspruch auf Absolutheit aufgibt, der jedem Kultus innewohnen muss. Denn keine „neue“ Messe gleicht der anderen, eben weil sie Autoren hat. Diese Autoren sind der Priester und seine Gemeinde. Aber das setzt einen Widerspruch frei. Denn, so Mosebach: „als Teilnehmer der heiligen Messe will ich gerade nicht tätig sein, denn ich habe allen Grund, mir und meinen geistigen und sinnlichen Antrieben zu misstrauen“. Der Kultus setzt Fakten, er ist „objektiv, ungeschaffen“. Er macht das Heilige „selbstverständlich“. Die alte Messe ist ein „nicht alltägliches, nicht menschengewillkürtes, sondern offenbartes Wunder der Heiligkeit Gottes, als Bild der Erlösung aus der Hand der Kirche, das uns von oben gereicht wird, wie man die Heilige Kommunion empfängt“. In dem Moment, in dem die Kirche angefangen hat, über Liturgie zu „sprechen“, hat sie eine Schwelle übertreten und einen Mechanismus in Gang gesetzt, der das Heilige verfügbar und diskutierbar macht. Damit hat sie damit begonnen, sich im Innersten zu demontieren. Das Ergebnis dieser Relativierung sehen wir heute allenthalben: Kirchenaustritte, Priestermangel, Ordensschrumpfungen.
So ist also die Heiligung des Alltags, wie Martin Mosebach es formuliert, „erst der zweite Schritt im religiösen Leben eines Menschen“. Der erste Schritt besteht darin, „das Heilige zu sehen und heilig zu halten, im Alltag den Raum und die Zeit für das Heilige abzustecken“. Dieses Sichtbar-Halten des Heiligen im Alltag ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, diesen Alltag selbst verwandeln zu können und unser Leben Christus anzugleichen. Heiligung (seiner selbst, des Alltags, der Arbeit) setzt voraus, das man das Heilige vom Profanen absondert – in Zeichen, Form, Farbe, Gestalt. Es ist das Zentrum des Katholischen, das Mosebach hier umschreibt.
Daher muss hier auch ein für allemal mit einem Missverständnis aufgeräumt werden. Immer wieder wird Mosebach liturgischer „Ästhetizismus“ vorgehalten. Nichts kann falscher sein. Wer so urteilt, der liest diese Essays durch die Brille der „gemachten“ Liturgie, der bewertet nur das äußerlich Sichtbare. Wer Mosebachs Ausführungen mit einer Apologie des „Ästhetizismus“ verwechselt, der hat nicht verstanden, dass es hier gar nicht um die Schönheit der liturgischen Form geht, sondern um ihre Nicht-Gemachtheit, um ihre dem Zugriff des Menschen entzogene Gestalt. Dass diese römische Liturgie objektiv schön ist – viel schöner als jede denkbare Form nachkonziliarer Liturgiebemühung – ist akzidentell. Denn die Tatsache ihrer Schönheit verdankt sich ihrer Göttlichkeit. Die Schönheit ist nicht der Glanz, sondern der Abglanz, und zwar der Abglanz des Heiligen. Es ist nicht das Wesen der göttlichen Liturgie, schön zu sein, sondern eben objektiv. Mosebachs „Ästhetizismus“ ist also vielmehr ein „Objektivismus“ zu nennen.
Diesen Objektivismus kann man erleben. Jeder Christ, der beide Liturgieformen kennt, wird bald den Eindruck bestätigen, den ein Mitfeiern der alten Messe hinterlässt: dass es sich hierbei um eine andere Theologie handelt, ja dass man – wenn der Kontrast zwischen den beiden Liturgieformen ausreichend groß ist – sogar das Gefühl haben kann, zwischen zwei verschiedenen Religionen hin und her zu wandern. Man kann es vielleicht auch so ausdrücken: Ein Sohn, der zum Vater geht, um sich Rat für sein Leben zu holen, erfährt in einem solchen Gespräch mehr Stärkung und Bekräftigung als ein anderer Sohn, der mit einem vom Vater eingesetzten Erzieher spricht. In diesem Bild wird vielleicht die Differenz zwischen der Kraft, die von der alten Messe für die eigene christliche Lebensführung ausgeht, und den Impulsen, die die „neue“ Messe zu setzen vermag, deutlich. Eine neue Messe kann noch so feierlich zelebriert werden – ihr wohnt stets der Charakter eines Schattenbildes inne. Es ist wie in Platons Höhlengleichnis: Wir ahnen in der neuen Messe das Heilige mehr, als dass wir es anschauen können – und das, obwohl die moderne Liturgie alles unternimmt, um dieses Heilige in unsere Mitte zu rücken und es ans Licht zu bringen. Doch dieses „obwohl“ entlarvt sich als ein „gerade weil“. Gerade weil das Heilige den Menschen so nahe wie möglich gebracht werden soll, können es viele nicht mehr als das Heilige erkennen.
Dieser „Lichtzwang“ (Paul Celan) implementiert die Mechanik der aufgeklärten Moderne, die Mechanik des unbedingten Verfügen-Wollens, ins heilige Geschehen selbst. Doch die Wahrheit liegt nicht in der Transparenz, sondern in der Verbergung. Deshalb ist die alte Liturgie stumm, deshalb verhüllt sie – und gerade darin wird sie als Form dem Heiligen gerecht, gerade deshalb ist sie als Form der Annäherung an das Heilige angemessen. In der Eucharistie ist es nicht anders wie im konkreten Leben: Wir sollen im Verborgenen beten und unsichtbare Almosen geben (Matth 6, 4–5). Denn: „Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten“ (Matth 6, 6). Wer diesen Gedanken vertiefen will, dem sei die konzentrierte Lektüre des Aufsatzes „Offenbarung durch Verhüllung in der alten römisch-katholischen Liturgie“ aus Mosebachs Band empfohlen.
An Beispielen für dieses „Menschengewirktheit“ der modernen Liturgie ist sicherlich kein Mangel. Jeder Gottesdienstbesucher hat da sicher schon seine eigenen Erfahrungen gemacht. Der eine mag dabei an den Schleiertanz denken, den die Gemeindereferentin einmal während einer Sonntagsmesse mit ihren Schützlingen vor dem Altar aufgeführt hat, um ihre Solidarität mit den Frauen Palästinas zu bekunden. Dem anderen sticht vielleicht bei jeder Messe der stumpfe Abglanz des liturgischen Plastikgeräts in die Augen, das in vielen Kirchen die schweren goldenen Gefäße ersetzt hat. Mosebach wird nicht müde, immer neue Beispiele zu zitieren, die alle auf die systematische Zerstörung der theologischen Kraft der Gotteshäuser, ihrer Ausstattung, der liturgischen Geräte, der religiösen Gebräuche und der „heiligen Zeichen“ (Guardini) einzahlen. Sie haben an die Stelle des Heiligen die menschliche Vernunft gesetzt, an die Stelle der himmlischen Verrücktheit das menschliche Mittelmaß. Die liturgischen Auswüchse sind bekannt, sie wiederholen sich täglich, man muss sie nicht repetieren und dadurch den Schmerz vertiefen (was Mosebach in seinen ganz und gar unpolemischen Texten übrigens auch nicht tut). Entscheidend ist, was sich durch sie ereignet hat: die systematische Ent-Ortung des christlichen Raumes und seiner heiligen Handlungen und damit die Neutralisierung der Gotteshäuser zu bloßen „Orten“, die erst noch zu „bespielen“ sind.
Das schmerzhafte Erlebnis der Entfernung durch den Versuch der Annäherung – so könnte man die Geschichte der Liturgiereform nach dem Zweiten Vaticanum auch nennen. Dieses Erlebnis ist schmerzhaft, weil man der inneren Zerrissenheit der eigenen Religion ansichtig wird. Aber es ist zugleich notwendig als eine Selbstvergewisserung, als Standortbestimmung. Und in diesem Gestus der Selbstvergewisserung erweist sich die Notwendigkeit des Mosebach'schen Buches. Es ist Erinnerung und Vergegenwärtigung in einem.
Mosebachs Texte und Gedanken erinnern an den Satz des Heiligen Josemaría Escrivá, den Gründer des Opus Dei, der seine Mitbrüder einmal ermahnte, sie sollten die alten Messbücher doch nicht wegwerfen, man könne sie vielleicht noch einmal brauchen. Diese Aussage ist bemerkenswert gerade für einen Theologen der Heiligung des Alltags und der Arbeit.
Es scheint, als habe Escrivá vorausgeahnt, welch ungeheure geistliche Kraft mit der Aufgabe der römischen Liturgie verloren ging, der er seinen eigenen Berufungs- und Gründungsweg verdankte. Es scheint, als habe er den geheimnisvollen Zusammenhang erahnt zwischen der Kraft, die von der Verborgenheit ausgeht, und dem Bestehen des Einzelnen in den Stürmen des Alltags. Und es scheint auch, als habe Martin Mosebach diese Bemerkung aufgefangen und ausgeführt, und als ereigne sich hier über die räumliche, zeitliche und vielleicht auch geistliche Distanz hinweg ein Dialog über die Zukunft des Christen.