Am 13. März 2019 hielt der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff vor der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Lingen einen Vortrag, in dem er für eine Kurskorrektur der kirchlichen Sexualethik plädiert, um die menschliche Sexualität „aus den normativen Fesseln der traditionellen Sexualmoral zu befreien.” Und da heißt es plötzlich an einer Stelle, wo es um das Ziel der „inhaltlichen Revisionsarbeiten am Gebäude der kirchlichen Sexualmoral” geht, „damit der erhoffte Frühling tatsächlich kommen kann.” Da haben wir es, das magische Wort: „Frühling”! Dieser Frühling wird also bis jetzt verhindert, und zwar durch die Kirche und ihrem Festhalten an ihrer Lehre. Aber merkwürdig: Gleichzeitig wird seit Jahren immer wieder beteuert, dass sich die Lehre der Kirche längst von der Lebenswirklichkeit des Menschen entfernt habe. Das heißt mit anderen Worten: In der Lebenswirklichkeit ist der sexuelle Frühling schon längst bei den Menschen angekommen.
Ist das die Lebenswirklichkeit, an die manche Bischöfe und Theologen die Kirche anpassen wollen?
Dann schauen wir uns doch einmal diese Lebenswirklichkeit an, die sich Herr Schockenhoff als „Frühling” vorstellt: Die Scheidungsrate in Deutschland ist zwischen 1960 und 2000 von knapp elf Prozent auf fast 52 Prozent gestiegen, die Pornoindustrie macht mehr Gewinn als Microsoft, Google, Apple, Amazon und Ebay zusammen, Pornosucht, sexuelle Verwahrlosung, emotionale Bindungsunfähigkeit nehmen zu. Sozialarbeiter können ein Lied davon singen. „Das Bild unserer Jugendlichen von Sexualität ist total geprägt von Pornografie“, wird eine Sozialarbeiterin in einem Stern-Artikel über sexuelle Verwahrlosung zitiert. Ist das also die Lebenswirklichkeit, an die manche Bischöfe und Theologen die Kirche anpassen wollen? Und weil Johannes Paul II. oft vor der „selbstbezogenen Fixierung auf eigenen Lustgewinn” warnte, muss er sich von Schockenhoff den Vorwurf gefallen lassen, den „Triebcharakter des Eros nicht vorbehaltlos” (!) positiv zu würdigen.
Vielleicht kommt einer sogar auf die Idee, den Zölibat für den Erfolg der Pornoindustrie verantwortlich zu machen
Ironischerweise sieht Schockenhoff ausgerechnet in der Missbrauchskrise einen Anlass, „über die Gründe nachzudenken, die eine Revision zentraler Aussagen dieser Lehre geboten erscheinen lassen.” Kam es also zu den Missbrauchsverbrechen, weil die Täter den Triebcharakter ihres Eros nicht vorbehaltlos genug gewürdigt haben? Wurden sie durch die Fesseln der kirchlichen Lehre daran gehindert? Was soll diese Logik? Vielleicht kommt ein Theologe ja sogar auf die Idee, den priesterlichen Zölibat, der inzwischen für alles herhalten muss, auch noch für den Erfolg der Pornoindustrie verantwortlich zu machen.
Als 2010 die erste Welle der Missbrauchsskandale Deutschlands Kirche erschütterte, fand Kardinal Lehmann den Mut, auf die dunkle Seite, die der Eros eben auch hat und die in den Missbrauchsverbrechen sichtbar wurde, aufmerksam zu machen: “Die menschliche Sexualität ist nicht so unschuldig romantisch, wie man dies - gegenüber allen Verteufelungen des Geschlechtlichen - oft meinte. Sie kann als Gesamttrieb des Menschen zu wunderbaren Höhen führen, die das irdische Glück des Menschen bilden können, weist aber auch abgründige Tiefen auf, die eine letzte Pervertierung des Menschlichen zeigen” (FAZ vom 1. April 2010). Schockenhoff dagegen fällt nichts anderes ein, als den sexuellen Frühling zu beschwören, der durch die kirchlichen Normen noch hinter Schloss und Riegel gehalten wird.
Glück bedeutet, die drei großen Sinngehalte menschlicher Sexualität zu bejahen
Offensichtlich dichter an der Lebenswirklichkeit dran sind Frauen wie Michaela von Heereman (Hausfrau, Mutter und Theologin!), die kürzlich geschrieben hat: „Aber die heutige sexuelle Freiheit verantwortet ihrerseits viel Unglück, etwa die stetige Zunahme von Bindungsunfähigkeit, Scheidungen, Pornografiesucht und Abtreibungen.” Und ganz im Sinne der Theologie des Leibes fügt sie hinzu: „Glück dagegen liegt in der Bejahung der drei großen Sinngehalte menschlicher Sexualität: Liebe, Lust und Leben (Fruchtbarkeit). Sie gehören zumindest grundsätzlich zusammen. Diese Botschaft schulden wir den jungen Leuten auf ihrer Suche nach dem Glück” (Neue Bildpost vom 18./19. Mai). Wie weltfremd muss man eigentlich sein, um nicht zu sehen, wie sehr die gegenwärtige Gesellschaft die Weisheit der kirchlichen Lehre nötig hat?
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DT
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