Herr Professor, gibt es einen kirchenrechtlichen Ermessensspielraum, eine Voruntersuchung bei Missbrauchsanzeigen zu unterlassen?
Erhält der Bischof Kenntnis von einem Missbrauchsfall, dann hat er eine Voruntersuchung durchzuführen. Es geht hier nicht um irgendwelche haltlosen Gerüchte oder um unkonkrete anonyme Schreiben. Wenn es aber wahrscheinlich erscheint, dass ein solcher Missbrauchsfall vorliegt, dann muss eine Voruntersuchung durchgeführt werden. Das wäre auch der Fall, wenn die Tat nach den staatlichen Gesetzen schon verjährt wäre. Manchmal kann eine solche Voruntersuchung aber aussichtslos sein, wenn zum Beispiel niemand zu den Vorfällen befragt werden kann. Wenn das klar ist, muss keine Voruntersuchung durchgeführt werden. Eine Voruntersuchung kann aber auch unterbleiben, wenn die Dinge durch die staatlichen Gerichte bereits hinlänglich erwiesen sind.
Welche Möglichkeiten und welche Pflichten hat ein Bischof, wenn das Opfer nicht aussagebereit ist oder der Täter nicht aussagefähig ist – wie es im Fall „O.“ gewesen sein soll?
Die Aussagen der Opfers und des vermeintlichen Täters sind von besonderer Bedeutung für die juristische Aufarbeitung und Ahndung eines Falles von sexuellem Missbrauch. Ich habe gerade vom „vermeintlichen“ Täter gesprochen, weil bis zum Nachweis der Schuld die Unschuldsvermutung gelten muss. Ist das Opfer nicht zur Aussage bereit, kann man darauf hinweisen, wie wichtig die Aussage für den Nachweis der Tat oder der Taten ist. Aber bei schwer traumatisierten Menschen werden solche Hinweise manchmal nichts bewirken. Auf gar keinen Fall darf hier Druck auf das Opfer ausgeübt werden. Aber die Kontaktaufnahme mit dem Opfer ist an dieser Stelle keine reine Pflichtübung, denn es geht um die Frage der Aufklärung eines behaupteten sexuellen Missbrauchs an einem Minderjährigen.
Wie sieht es aus, wenn der vermeintliche Täter nicht oder nicht mehr zur Aussage in der Lage ist?
Dafür kommen vor allem ernste gesundheitliche Gründe in Betracht. In einem solchen Fall ist keine Befragung möglich. Da es um die Ermittlung der Wahrheit geht, sollte man das aber nicht vorschnell konstatieren, denn dafür ist die Angelegenheit zu wichtig.
Wie ist zu verfahren, wenn das Opfer nicht aussagen möchte und der vermeintliche Täter dazu nicht in der Lage ist?
In einem solchen Fall könnte man von der Voruntersuchung absehen. Wie sollen die Anschuldigungen denn bewiesen werden? In einigen Fällen wird man auf die Ergebnisse eines staatlichen Strafverfahrens zurückgreifen können. Manchmal stehen Zeugen zur Verfügung, die wirklich etwas über den sexuellen Missbrauch wissen. Wichtig ist aber, dass man nicht vorschnell von der Voruntersuchung absieht, denn es geht um die Ermittlung der Wahrheit im Hinblick auf ein mögliches Strafverfahren.
Zu bedenken ist auch, dass sich die Situation ändern kann. Wer heute nicht zur Aussage bereit oder dazu in der Lage ist, kann vielleicht nach einiger Zeit dazu bereit oder in der Lage sein. Es geht um die Aufklärung der Wahrheit und dafür ist es nie zu spät! Wenn sich die Voraussetzungen ändern, unter denen man damals von einer Voruntersuchung abgesehen hat, kann man das später vielleicht nachholen.
Wenn einem Metropoliten – oder dem dienstältesten Suffraganbischof im Falle des Metropoliten – eine Anzeige wegen Vertuschens von Sexualstraftaten erstattet wird, der Beschuldigte aber Kardinal ist, wie hat er vorzugehen?
Ich kenne den vorliegenden Fall zu wenig, um beurteilen zu können, ob es sich wirklich um einen Fall der Vertuschung handelt. Aber darum geht es ja auch nicht, denn die Anzeige einer Vertuschung ist immer möglich, wenn jemand subjektiv davon überzeugt ist, dass eine Vertuschung vorliegt. Eine solche Anzeige gegen einen Bischof oder auch gegen einen Kardinal geht letztlich immer an den Heiligen Stuhl. Das kann über den Metropoliten oder im Falle des Metropoliten über den dienstältesten Diözesanbischof in der Kirchenprovinz oder über den Nuntius erfolgen. Der Heilige Stuhl wird in einem solchen Fall entscheiden, ob und wie genau den Vorwürfen nachzugehen ist.
"Ein Bischof kann von sich aus
gar nicht zurücktreten.
Ein Bischof kann dem Papst
allenfalls den Rücktritt anbieten."
Liegen Ermittlungen gegen Kardinäle nicht allein in der Verantwortung des Papstes – und handelt Kardinal Woelki damit verfahrenskonform, wenn er sich nun an den Papst wendet?
Kardinäle haben einen Sondergerichtsstand beim Papst. Man kann sich mit jeder Angelegenheit an den Papst wenden. Es spricht nichts dagegen, wenn sich Kardinal Woelki an den Papst wendet. Der Papst muss die Angelegenheit aber nicht persönlich untersuchen.
So hat er 2019 gesetzliche Regelungen für Fälle dieser Art getroffen und die sähen in diesem Fall eine Behandlung durch die Bischofskongregation vor, ohne die Zuständigkeit der Glaubenskongregation auszuschalten.
Kardinal Woelki lehnt seinen Rücktritt derzeit ab und möchte die von ihm beauftragte Missbrauchsstudie abwarten. Muss auch das kirchenrechtliche Verfahren das Gutachten abwarten?
Ein Bischof kann von sich aus gar nicht zurücktreten. Ein Bischof kann dem Papst allenfalls den Rücktritt anbieten. Der Papst entscheidet dann, ob er den Rücktritt annimmt oder nicht. Nun könnte man fragen, ob es angemessen wäre, wenn Kardinal Woelki dem Papst jetzt seinen Rücktritt anbieten würde. Aber solange der Heilige Stuhl die Angelegenheit prüft, gibt es keinen Grund zu einem solchen Schritt.
Ich kenne die Missbrauchsstudie inhaltlich nicht, gehe aber davon aus, dass sie eher allgemeiner Natur ist und wenig Aufschluss zu dem Fall gibt, um den es hier geht. Ein Verfahren, das beim Heiligen Stuhl geführt wird, muss auf die Veröffentlichung dieser Studie nicht warten.
Welche Optionen hat nun der Heilige Stuhl?
Es stellt sich zunächst die Frage, ob sich wirklich jemand an den Heiligen Stuhl gewandt hat und um eine Überprüfung gebeten hat. Das weiß ich letztlich nicht, auch wenn die Berichterstattung diesen Eindruck nahe legt. Es könnte sich um Kardinal Woelki oder um den dienstältesten Diözesanbischof seiner Kirchenprovinz handeln. Der Heilige Stuhl wird in einem solchen Fall die Angelegenheit überprüfen. Hierbei wird es um die Frage gehen, ob der Verzicht auf eine Voruntersuchung seinerzeit angemessen beziehungsweise vertretbar war.
Kardinal Woelki wird in diesem Zusammenhang wohl die Frage gestellt werden, ob das Opfer hinreichend um eine aktive Beteiligung gebeten wurde. Dem Opfer wird wohl die Frage gestellt werden, ob es damals vielleicht vorschnell auf eine aktive Beteiligung verzichtete.
Aber Opfer müssen nicht rechtskundig sein! Sie sind vielfach traumatisiert! Zudem können sich Einstellungen zur Verfahrensbeteiligung im Laufe der Zeit ändern. Aber wie gesagt: Es werden Fragen gestellt werden und diese Fragen legen keine bestimmte Antwort nahe. Wichtig wird in diesem Zusammenhang eine gründliche und genaue Untersuchung sein, für die man Aktenkenntnis benötigt und gegebenenfalls Nachbefragungen vornehmen muss.
Das alles wird ein komplexer und langwieriger Vorgang sein. Konkret geht es um die Ermittlung der Wahrheit in einem Missbrauchsfall an einem Minderjährigen und das ist zu wichtig, um sich mit vorschnellen Antworten zufrieden zu geben. Ich maße es mir nicht an, das von außen zu beurteilen.
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