Mächtige Kirchen prägen das Bild vieler britischer Städte und Dörfer. Berühmt sind nicht nur die fast tausendjährige Kathedrale von Canterbury oder St. Paul's in London, sondern auch die gotischen Gotteshäuser von Durham, Ely, Lincoln, Salisbury, Winchester und Wells – steingewordene Zeugnisse des christlichen Glaubens der Bevölkerung. Mehr als 16 000 Kirchen unterhält die Church of England. Sie gehören oft zu den schönsten Gebäuden der Orte und waren traditionell Gemeindezentren. Doch der Glaube schwindet.
Anteil der Christen erstmals seit mehr als tausend Jahren unter 50 Prozent
Vor kurzem fand am 21. März abermals ein Zensus, eine Volkszählung im Vereinigten Königreich statt, bei der alle zehn Jahre die Bevölkerung detailliert erfasst wird. Auch nach der Religion wird gefragt. Zwar dürfte es noch mehrere Monate dauern, bis die Resultate von mehr als sechzig Millionen Menschen ausgewertet sind. Aber schon jetzt ist ein Ergebnis absehbar: Der Anteil derer, die sich selbst als Christen bezeichnen, ist 2021 wahrscheinlich erstmals in der britischen Geschichte seit mehr als tausend Jahren unter 50 Prozent gesunken. Der linksliberale „Guardian“ schreibt nüchtern und ohne Bedauern von einem „post-christlichen Britannien“, das ein „spirituelles Enigma“ werde.
Als die Frage nach der Religion 2001 erstmals gestellt wurde, bezeichneten sich noch 72 Prozent in England und Wales als Christen, 2011 waren es 59 Prozent. Der Abwärtstrend ist rasant und ungebrochen. Er geht offenbar schneller voran, als die Wissenschaftler des amerikanischen Pew Research Center schätzten, die erst im Jahr 2040 weniger als 50 Prozent Christen erwarten. Der Anteil derer, die im Zensus „keine Religion“ angeben, ist von 15 auf 25 Prozent (2011) gestiegen. In der 8-Millionen-Metropole London bezeichneten sich schon vor zehn Jahren nur noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung als Christen.
Islam auf dem Vormarsch
Die Kirchen der anglikanischen Church of England sind meist leer – auch bevor die Corona-Lockdowns eine Zwangsschließung brachten. Weniger als eine Million Menschen gehen wöchentlich in einen Gottesdienst, das sind nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung und damit weit weniger als in Ländern wie Deutschland (zehn Prozent der Katholiken, drei Prozent der Protestanten) oder auch Frankreich (fünf Prozent). Schon vor fünf Jahren hieß es in einem Kirchenreport, dass in einem Viertel der englischen Gotteshäuser weniger als zwanzig Gläubige zum Gottesdienst erscheinen, in ländlichen Gegenden weniger als zehn. Von den gut dreißig Prozent Anglikanern zur Jahrtausendwende sind etwa die Hälfte verschwunden.
Deutlich auf dem Vormarsch ist der Islam. In London leben mehr als eine Million Muslime, in ganz England und Wales waren es vor zehn Jahren laut Zensus mehr als fünf Prozent der Bevölkerung. In manchen nordenglischen Städten wie Oldham nördlich von Manchester leben schon mehr als 20 Prozent Muslime. Das schafft auch Konflikte, wie etwa jüngst in einer Schule nahe Bradford, wo ein Religionslehrer, nachdem er im Unterricht eine Mohammed-Zeichnung gezeigt hatte, sich nach wütenden Muslim-Protesten und Todesdrohungen verstecken muss. In manchen Gemeinden haben Islamisten eine Dominanz erreicht, es findet eine schleichende Islamisierung statt.
Kaum öffentliches Bedauern
Die Zahl der Katholiken in England ist durch den Zuzug von etwa einer Million katholischen Osteuropäern, besonders aus Polen, in den letzten zwei Jahrzehnten über vier Millionen gestiegen (Premierminister Boris Johnson ist einer dieser Minderheit), das entspricht einem Katholiken-Anteil von etwas über sieben Prozent der Bevölkerung in England. Bald dürfte die Zahl der Muslime sie aber übertreffen.
Bemerkenswert ist, wie wenig Aufsehen oder bedauernde öffentliche Debatte die Entchristlichung auslöst. Schon vor Jahren schrieb die Soziologin Linda Woodhead von der Universität Lancaster, Britannien durchlebe derzeit „die größte religiöse Transition seit der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts“. Der multikulturelle, postmoderne und „woke“ Zeitgeist hat mit den alten, christlichen Traditionen und Prägungen wenig im Sinn, vielmehr steht er ihnen in vielerlei Weise feindselig gegenüber. Der konservative frühere Erzbischof von Canterbury, Lord Carey, beklagte, dass die „Political Correctness“ das Christentum untergrabe, nachdem an einzelnen Schulen Kinder wegen eines Kreuzes an einem Kettchen nach Hause geschickt wurden und viele Städte nicht mehr Weihnachtsmärkte, sondern „Wintermärkte“ veranstalten. Statt Karten mit Weihnachtsgrüßen werden religiös neutrale „Seasons Greetings“ verschickt. Carey beklagte schon vor Jahren, dass kein Politiker „Besorgnis ausdrückt, dass Britannien ein christliches Land bleiben soll“. Dieses Schweigen sei „ein Skandal und eine Schande für unsere Geschichte“.
Die Anglikanische Kirche passt sich dem Zeitgeist an
Eine konservative Kraft ist die anglikanische Kirche aber schon lange nicht mehr, vielmehr trompetet sie fast sämtliche Botschaften des Zeitgeists mit. Der „Guardian“ schrieb vor einigen Jahren: „Die Church of England hat sich erst in jüngerer Zeit drastisch gewandelt, von der betenden Tory-Partei in eine beherzt linke Kirche.“ Global hat das auch Spannungen gebracht. Die anglikanische Kirche weltweit ist seit den neunziger Jahren über die Frage der Beurteilung von Homosexualität – Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und Homo-„Ehe“ – zerstritten und teils gespalten; die Mehrheit in Afrika und Asien verweigert sich dem. In Großbritannien gibt sich der Mainstream der Anglikaner progressiv. Der Erzbischof von York, Stephen Cottrell, der als wahrscheinlicher Nachfolger des derzeitigen Erzbischofs von Canterbury, Justin Welby, gilt, erklärte an Ostern, seine persönliche Priorität sei es, den angeblichen Rassismus in der Kirche von England anzugehen. Er möchte mehr Bischöfe aus ethnischen Minderheiten ernannt sehen.
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