Herr Bischof, man hat das Gefühl, die Kirche, die Diözesen sind in Sachen Neuevangelisierung stehengeblieben. Kann die verbandliche Jugendarbeit von Initiativen wie der GiG-Konferenz lernen?
Ich kenne das Konzept der GiG-Konferenz nicht gut genug, um das beurteilen zu können. Ich war als Gast eingeladen und hab aus Interesse zugesagt. Grundsätzlich ähneln sich ja die Formate solcher Konferenzen, auch unser Adoratio-Kongress im letzten November war ähnlich – mit eben der Betonung dort auf Anbetung. Das heißt: GiG erfindet das Rad nicht neu, aber sie versuchen das Ihre gut zu machen. Es spricht offenbar eine Sehnsucht an – und das ist gut. Wichtig bleibt meiner Meinung nach mit Blick auf die verbandliche Jugendarbeit, die Sie ansprechen: Alle Gruppierungen sollen und können voneinander lernen, anstatt der Versuchung nachzugeben, sich fortwährend voneinander abzugrenzen und die jeweils anderen negativ zu beurteilen. Auch die Leute, die zu GiG kommen, können auf den anderen Feldern lernen.
Sehen Sie aber vielleicht auch die Gefahr, dass die Kirche bei der Neuevangelisierung zu sehr die Freikirchen kopiert, anstatt ihre eigenen Kernkompetenzen wie zum Beispiel die Sakramente zu entfalten? Ich denke da beispielsweise an Veranstaltungen wie die Ökumenische MEHR-Konferenz.
Auf der MEHR-Konferenz wird – wenn ich das recht erinnere – durchgehend neben dem Hauptprogramm – eucharistische Anbetung und Beichte angeboten. Wenn wir dann noch voneinander lernen, was andere gut machen, was soll daran verkehrt sein?
Jugendarbeit ist ja auch ein zentraler Baustein der Neuevangelisierung. Als Jugendbischof und durch Ihren Orden arbeiten Sie viel mit jungen Leuten zusammen. Wie setzen Sie Neuevangelisierung unter Jugendlichen im eigenen Bistum um?
Zunächst einmal: Ich alleine kann gar nichts umsetzen. Evangelisierung ist immer ein Weg der ganzen Kirche, aller Getauften. Erst einmal müssten wir uns darüber deutlicher bewusst werden, dass die Weise, wie wir in der Volkskirche junge Menschen in den Glauben führen oder geführt haben, oftmals nicht mehr allzu fruchtbar ist. Das heißt: Wir sind herausgefordert, auch nach neuen Wegen, neuen Formen, neuer Leidenschaft zu suchen, in denen das Gläubigwerden unter heutigen Bedingungen möglich ist und gelingt. Und zwar auch innerhalb der klassischen Felder der Jugendarbeit. Eine überaus wichtige Komponente sind ehrliche Beziehungen, ist ehrliche, intensive Weggemeinschaft mit jungen Menschen. Zudem: Ich glaube, dass sich Pfarreien heute neu bewusst werden dürfen, dass diese Aufgabe nicht einfach der Gemeindereferentin oder dem Kaplan überlassen werden kann.
Es ist Aufgabe von allen – und es fordert wirklich auch Einsatz, Opfer. Wir brauchen auch eine erneuerte Verständigung darüber, was wir überhaupt mit dem Evangelium meinen, in seiner Tiefe und Radikalität. Ich mache die Erfahrung, wenn wir dieses Evangelium herausfordernd verkündigen – und wenn es in eine gemeinschaftlich gewachsene, geistliche Atmosphäre hineingesprochen wird, dann passiert auch etwas in den Herzen junger Menschen. Das versuche ich persönlich mit einem regelmäßigen Projekt von jungen Menschen. Zudem fördern wir Initiativen von geistlichen Gemeinschaften mit jungen Menschen, wir planen etwa eine Jüngerschaftsschule oder wir arbeiten mit FOCUS zusammen. Wir haben das Firmalter von 12 auf 16 Jahre heraufgesetzt, um mehr Bewusstsein und Ehrlichkeit hineinzubringen. Und wir investieren zugleich auch in unsere klassischen Felder: Ministrantenarbeit, Jugendverbandsarbeit, Kirchenmusik und ähnliches. Ich hoffe stark auf gegenseitige Befruchtung und vor allem auf die Herzenserkenntnis vieler in allen Feldern, dass es wirklich um Jesus geht.
"Eine Kirche, die insgesamt nicht
den leidenschaftlichen Wunsch hat,
mehr Menschen in den Leib Christi zu führen,
wird kraftloser, geistloser, angepasster..."
Bei Treffen wie diesem kommen ja oft junge Gläubige, die schon katholisch erzogen worden sind. Bei den verschiedenen Events ist die Schnittmenge der Besucher oft sehr groß. Wie kann die Kirche es schaffen, Leute zu erreichen, die bisher noch gar keine Berührung mit dem Glauben hatten?
Wer tiefer im Eigenen steht, kann weiter hinausgehen. Und tief im Eigenen stehen bedeutet aus meiner Sicht: aus der realen Gegenwart Jesu leben. Leider ist das Thema „missionarisch Kirche sein“ bei uns Katholiken vor allem ein Bekenntnis auf dem Papier. Aber wenn wir ehrlich sehen, wie viele Menschen zum Beispiel im letzten Jahr in Deutschland die Erwachsenentaufe empfangen haben (rund 2 500 bei rund 10 000 Pfarreien) und wie viele Erwachsene ausgetreten sind (rund 270 000), dann erkennen wir, dass wir miteinander alles andere sind als eine missionarische Kirche. Das hat natürlich viele Faktoren, viele Ursachen, Zeitumstände.... Aber Tatsache ist, dass wir als Katholiken in der Moderne bislang kaum Leidenschaft dafür haben, anderen Menschen zu einer Begegnung mit dem Herrn zu verhelfen. Und wir haben es auch nicht geübt; es hat ja immer irgendwie „automatisch“ funktioniert. Tatsächlich aber erleben wir gerade: Eine Kirche, die insgesamt nicht den leidenschaftlichen Wunsch hat, mehr Menschen in den Leib Christi zu führen, wird kraftloser, geistloser, angepasster – und fällt irgendwann in sich zusammen, wenn nicht neue Heilige auftreten, die uns helfen, neu Kirche zu sein.
Oft wird propagiert, die Kirche müsse in ihren Ansichten und Überzeugungen moderner werden. Wo denken Sie, trifft das zu, was sollte gleich bleiben?
Das Evangelium ist immer jung. Und Menschen, die sich davon ergreifen lassen, finden aus Liebe zur Zeit, zu ihren Umständen und zu den Menschen immer auch eine neue Sprache, neue Methoden, neue Leidenschaft (wie Johannes Paul II. sagte) – um das eine Evangelium je neu zu leben und zu sagen. Schauen Sie auf Papst Franziskus: Er ist für mich der Papst eben für diese Zeit. Und er lebt einen Stil des Evangeliums, der für einen Papst neu ist und viele berührt. Aber er lebt und verkündet das Evangelium Jesu Christi. Dass es dabei innerhalb der Lehre Entwicklung gibt, haben wir durch die Geschichte gesehen, jüngst etwa im Blick auf das Verbot der Todesstrafe. Ob es in den Themen, die viele Menschen heute mit „modern“ in Verbindung bringen, also etwa die Frage nach der Sexualmoral oder der Priesterweihe der Frau im selben Sinn Entwicklung geben kann, bezweifle ich aus theologischen Gründen. Hier wäre aus meiner Sicht eher die Frage: Wie können wir das, was die Kirche lehrt, in einem guten, authentischen und damit modernen Sinn plausibilisieren.
Die Jugend ist oft sehr schnelllebig, es geht ihnen mehr um das Leben im Moment, als um das, was uns nach dem Tod erwarten könnte. Wie kann die Kirche ein neues Bewusstsein für die Ewigkeit schaffen?
Am besten, indem Sie und ich Menschen werden, die aus der Berührung mit der Ewigkeit leben.
Oft haben Jugendliche, die ein grobes Wissen über die Kirche sehr viele Vorurteile gegenüber der Kirche und sind dann nur noch schwer zu begeistern. Wie denken Sie, gelingt es, diese Vorurteile abzubauen?
Der erste Weg ist der Weg authentischer Beziehung, echter freundschaftlicher Nähe zu jungen Menschen. Haben wir wirklich Interesse an ihnen? Oder wollen wir sie nur rekrutieren, damit der kirchliche Betrieb weitergeht? Einzelne „Programme“ mit diesem Ziel haben kaum „Erfolg“. Aber bereit zu sein, mit einem jungen Menschen einen Weg zu gehen, oder mit einer Gruppe von jungen Menschen – sie gern zu haben, sie auszuhalten – und von der Sehnsucht erfüllt zu sein, dass sie selbst als Geschenk empfangen können, was für mich das Geschenk meines Lebens ist, nämlich die Begegnung mit dem Herrn, das ist aus meiner Sicht für heute der Weg – und der macht auch kreativ. Ich hatte einen Lateinlehrer, der mochte mich und uns als Schüler – das haben wir gespürt – und er hatte Leidenschaft für sein Fach. Und irgendwann ist eben deshalb der eine oder andere von uns Schülern auf die Idee gekommen, dass Latein doch nicht so doof sein kann, wenn dieser gute Typ offenbar solche Freude daran hat. Stellen Sie sich also einen Menschen vor, der die Jugendlichen wirklich gern hat und zwar absichtslos gern hat – im richtig verstandenen Sinn – und der dann auch noch Leidenschaft für Jesus hat. Der wird mit Sicherheit da und dort bei den Jugendlichen die Frage provozieren – was es mit diesem Jesus auf sich hat….
"Brennt in Ihnen die Sehnsucht,
junge Menschen zu erreichen?"
Die Corona-Krise bringt viele Leute zum Nachdenken und macht vielleicht auch junge Menschen wieder offener für den Glauben und die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wie kann die Kirche in dieser Zeit Jugendliche erreichen, die bisher kaum Berührung mit dem Glauben hatten?
Im Sinne meiner letzten Antwort würde ich die Frage an Sie als Christin zurückgeben wollen: Brennt in Ihnen die Sehnsucht, junge Menschen zu erreichen? Wenn ja, haben Sie schon eine Antwort. Und diese Sehnsucht wird Sie auch kreativ machen, wird Ihnen helfen, Wege, Methoden zu finden, die Beziehung zu vertiefen. Und ja, natürlich müssten wir dabei auch die neuen Medien nutzen – und andere Methoden mehr. Aber im Grunde gibt es auch nicht zuerst eine Methode oder die Methode, sondern die Bereitschaft, sich vom Geist führen zu lassen, zu denen, die den Herrn noch nicht kennen.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.