Zehn Minuten bis zum Boarding – ein Jahr in Ruanda liegt vor mir. Ein Traum seit meiner Kindheit. Das Wetter ist gut: blauer Himmel, nur ein paar Wolken hängen in der Luft. Ein bisschen so wie meine Gefühlslage: ein wenig Anspannung, ein wenig Angst, aber vor allem die beruhigende Gewissheit, dass alles so kommen wird, wie es kommen soll. (…) Als ich im Konvent der Schwestern angekommen bin, habe ich schon erstmal einen Schock bekommen: Von den Wänden blättert teilweise der Putz ab, im Flur zu unserem Zimmer sind Kakerlaken rumgesaust, zur Dusche führen einfach zwei Wasserrohre an der Wand. Es ist alles sehr viel einfacher, als ich es mir vorgestellt habe.“
Diese Sätze habe ich vor gut einem Jahr nach meiner Ankunft in Ruanda als erstes in mein Tagebuch geschrieben. 357 Tage, 407 Tagebuchseiten und 832 Unterrichtsstunden später stehe ich kurz vor meiner Rückreise nach Deutschland und merke, wenn ich auf die ersten Tage meines Einsatzes zurückschaue, wie viel ich in diesem Jahr gelernt habe und wie sich mein Denken verändert hat. Mein Bild vom „armen Afrikaner“, das ich unterbewusst durchaus verinnerlicht hatte, auch wenn ich das auf Nachfrage vermutlich nicht direkt so bestätigt hätte, hat sich verändert. Ich musste feststellen, dass es hier große Unterschiede gibt: Da gibt es einmal die reichen Familien, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, die in großen Villen wohnen, die durch Stacheldraht und Überwachungskameras geschützt sind und in denen Hausmädchen sich um die Wäsche, das Essen und teils auch um die Kinder kümmern.
Stereotype in beide Richtungen
Dann war ich bei einer Kollegin zu Hause, die zwar für ihre Familie ein eigenes Haus hat, einen kleinen Garten, eine Haushaltshilfe und einen Wachhund, aber trotzdem deutlich unter der finanziellen Oberschicht lebt. Und gleichzeitig habe ich Einblicke in Lebenssituationen erhalten, in denen Menschen am Existenzminimum leben: Es gibt Eltern, die mehrere Jobs haben, um irgendwie die Monatsmiete bezahlen zu können, Essen auf den Tisch zu bringen und das Schulgeld für ihre Kinder zu bezahlen – und es dann trotzdem nicht reicht, dass die Kinder eine weiterführende Ausbildung absolvieren können. Ich war bei Bekannten zu Hause, die kein fließendes Wasser haben, weder Herd noch Kühlschrank und kein Bad, sondern sich ein Plumpsklo mit zehn anderen Personen teilen. Und für mich persönlich die wichtigste Erkenntnis: Viele Leute hier haben uns Europäern gegenüber genauso Stereotype verankert, wie wir sie in Bezug auf Afrika haben. Und mir ist bewusst geworden: Brücken zwischen verschiedenen Kulturen können nur gebaut werden, wenn die Vorurteile auf beiden Seiten angesprochen und abgebaut werden.
Ein Vorurteil, das sich zum Beispiel fest etabliert hat, ist, dass Europäer nicht wüssten, wie man arbeitet. Denn viele anstrengende Hausarbeiten wie Abspülen, Kleidung waschen, Rasenmähen oder Gemüse schneiden, die bei uns in der Regel von elektrischen Geräten übernommen werden, werden hier von Hand gemacht, was schnell anstrengend werden kann, wenn man das nicht gewohnt ist. Deswegen wurden mir solche Arbeiten oft abgenommen, wenn ich damit bereits begonnen hatte oder Hilfsangebote meinerseits öfter nicht angenommen. Beim Kartoffelschälen habe ich einmal den wohl gut gemeinten Kommentar zu hören bekommen: „Inzwischen hast du gelernt, wie eine Afrikanerin zu arbeiten.“
Doch trotz mancher schwieriger Situationen wegen kultureller Unterschiede habe ich viele Erfahrungen gemacht und Erlebnisse gesammelt, die ich nicht missen möchte und die ich nie vergessen werde.
Achtzig Priester bei Pallottiner-Jubiläum
Ein Höhepunkt meines Aufenthalts war die Jubiläumsfeier des 50-jährigen Bestehens der pallottinischen Gemeinschaft in Ruanda. Die Feier hat mehrere Tage angedauert und den Höhepunkt bildete der Abschlussgottesdienst am Sonntag. Schon als ich auf das Festgelände gekommen bin, staunte ich nicht schlecht: Es waren vier große Festpavillons aufgebaut, die bereits bis zum letzten Platz gefüllt waren mit Laien in bunten traditionellen Gewändern und Ordensleuten in verschiedensten Kutten. Beim Einzug habe ich dann aber kaum meinen Augen getraut: Die Schlange der Priester in Richtung Altar hat einfach kein Ende genommen. Ich habe angefangen zu zählen: zwei, vier, sechs, acht … achtzig! Und dann gleich nochmal, weil ich mir sicher war, mich verzählt zu haben. Und zum Schluss kamen noch sechs Bischöfe und der Kardinal Ruandas. Weil die Priester bei Weitem keinen Platz im Altarraum gefunden hätten, setzten sie sich auf die für den Anlass aufgebaute Seitentribüne. Zu Beginn wurden die verschiedenen Länder aufgezählt, aus denen die Bischöfe, Priester und Schwestern angereist waren: die Nachbarländer Ruandas Uganda, Tansania, Demokratische Republik Kongo, aber auch aus Kamerun, von der Elfenbeinküste, Südafrika und aus Polen, Belgien und Deutschland!
Als der Chor, neben dem ich direkt gestanden bin, dann noch zu singen begann, habe ich definitiv Gänsehaut bekommen. Mindestens fünfzig Chormitglieder haben aus voller Brust gesungen und obwohl ich den Text nicht verstanden habe, weil teils in der Landessprache Kinyarwanda gesungen wurde, war ich tief gerührt und habe mir gedacht: Das muss ein Vorgeschmack auf den Himmel sein! Die Jubiläumsfeier schloss zugleich noch eine Priesterweihe ein, wodurch die Pallottiner an dem Tag gleich noch um einen Geistlichen reicher geworden sind. Meine erste afrikanische Priesterweihe war eine unvergessliche! Obwohl der Gottesdienst vier Stunden gedauert hat, kam es mir nicht so lang vor, weil der Gottesdienst auf Englisch, Französisch und Kinyarwanda gefeiert wurde, sodass ich einen guten Teil verstanden habe und weil er so schön war, dass ich die Zeit ganz vergessen habe.
Die Weltkirche wächst
Vor dem Auszug habe ich auf die zum Lobpreis vor dem Altar tanzende Gemeinschaft von Laien, Schwestern und Priestern geschaut und versucht, mir dieses Bild in mein Gedächtnis so stark wie möglich einzubrennen, um es in grauen Tagen wieder hervorzuholen. Halb dachte ich mir, halb betete ich: Danke, dass ich die wachsende Weltkirche so bildlich vor Augen geführt bekomme! Wenn ich daran denke, dass ich bald wieder am Flughafen stehe, um in die andere Richtung zu fliegen, überschlagen sich meine Gefühle: Da ist einerseits Vorfreude auf Zuhause, auch ein bisschen Erleichterung, wieder das Vertraute zu haben, Dankbarkeit für die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, aber andererseits ein bisschen Wehmut, weil ich die Kinder und einige Freunde doch auch vermissen werde – aber vor allem spüre ich erwartungsvolle Spannung, was hinter der nächsten Kurve auf meinem Lebensweg auf mich wartet.
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