Während die russische Armee in der Ukraine Sakralbauten jeder Konfession zerstört, spitzt sich in Kiew das Ringen um das bedeutendste Nationalheiligtum zu: Die ukrainische Regierung versucht, die traditionell von Moskau abhängige Orthodoxie aus dem Kiewer Höhlenkloster zu vertreiben, während diese einer internationalen Öffentlichkeit suggeriert, die Religionsfreiheit in der Ukraine sei in Gefahr. Ohne Putins Überfall auf das Nachbarland wäre es dazu wohl nie gekommen; die beiden verfeindeten Orthodoxien – die mit Moskau verbundene „Ukrainisch-Orthodoxe Kirche“ (UOK) und die von Konstantinopel errichtete „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ (OKU) – hätten konkurrierend nebeneinander koexistiert. Angesichts des Überlebenskampfes jedoch wurde die Frage, ob die UOK nicht doch vom Moskauer Patriarchat gesteuert und darum die Kirche der Invasoren sei, zum Politikum.
Damit auch das Höhlenkloster: Der 23 Hektar große Komplex mit 140 Gebäuden trägt den Ehrentitel einer Lawra, wie zwei weitere Klöster in der Ukraine und in Russland. Rechtlich gehört die Lawra dem ukrainischen Staat, doch der russophile Präsident Viktor Janukowitsch verpachtete die „untere Lawra“ 2013 – wenige Monate vor seinem Sturz – unbefristet und kostenfrei an die UOK. Hier finden sich die Kiewer Theologische Akademie und die Residenz des Oberhauptes der UOK, Metropolit Onufrij. Bisher jedenfalls, denn Kulturminister Oleksandr Tkatschenko hat den Nutzungsvertrag mit der Begründung gekündigt, die Kirche habe durch die Errichtung neuer Gebäude gegen Vereinbarungen verstoßen. Das entspricht den Tatsachen, ist aber eher Anlass als Grund der Kündigung.
Glaubwürdigkeit der UOK beschädigt
Die Regierung nimmt der UOK nicht ab, dass sie sich tatsächlich vom Moskauer Patriarchat getrennt und von dessen Ideologie der „russischen Welt“ gelöst hat. Zwar hat sich Onufrij vor wie hinter den Kulissen von der Kriegspropaganda des Moskauer Patriarchen Kyrill distanziert. Auch hat das Konzil der UOK im Mai 2022 ihre „Autonomie“ von Moskau bekräftigt und den Zusatz „Moskauer Patriarchat“ aus ihrem Namen getilgt. Doch die Glaubwürdigkeit ist beschädigt. Jedenfalls fand kein Generationen- oder Führungswechsel statt.
Der Verdacht, die UOK stehe in diesem Krieg heimlich auf der anderen Seite, wurde durch Fälle von Kollaboration erhärtet. Zuletzt sah man beim Blitzbesuch von Wladimir Putin auf der Krim am Samstag einen ihrer Geistlichen an der Seite des Eroberers. Bereits im Dezember kündigte Präsident Wolodymyr Selenskyj eine härtere Gangart gegen die UOK an: „Wir werden es niemals jemand erlauben, ein Imperium innerhalb der ukrainischen Seele zu bauen.“ Vielmehr wolle man sicherstellen, „dass keine vom Aggressorstaat abhängigen Akteure die Möglichkeit haben, die Ukrainer zu manipulieren und die Ukraine von innen zu schwächen“. Zuvor fanden Durchsuchungen in Klöstern und Bischofshäusern statt; dann wurde das neue Statut der UOK unter die Lupe genommen.
Auch die Kiewer Lawra wurde mehrfach durchsucht. Während die Behörden angaben, russische Propaganda gefunden zu haben, suggerierte der Rektor der Kiewer Theologischen Akademie, Erzbischof Sylvestr, im Februar im Gespräch mit dieser Zeitung, der Geheimdienst selbst könnte das belastende Material gezielt platziert haben. Unbestritten ist, dass es Fälle von Kollaboration von Priestern und Bischöfen der UOK mit den russischen Besatzern gibt. Strittig ist der Umfang der Kollaboration. Die Regierung hat bereits mehreren Geistlichen die Staatsbürgerschaft entzogen, sie mit Sanktionen belegt und Strafverfahren eingeleitet. Auch ein Verbotsverfahren gegen die UOK insgesamt ist auf dem parlamentarischen Weg. Der Zank um die Lawra ist also nur der erste große, symbolträchtige und sichtbare Showdown zwischen einer Regierung im Krieg und einer Kirche, die unter Verdacht steht.
UOK will sich von russischem Imperialismus distanzieren
Die führenden Köpfe der UOK versuchen nun plausibel zu machen, dass sie und ihre Besitzansprüche mit der russischen Orthodoxie und ihrer imperialistischen Kriegshetze nichts zu tun haben. Als Vertreter der UOK-Synode am Montag von Präsident Selenskyj nicht empfangen wurden, polterte der für Information zuständige Metropolit Kliment: „Wir bedauern, dass der Staat den direkten Kontakt und Dialog mit einem erheblichen Teil des ukrainischen Volkes, das an die UOK glaubt, vermeidet und verzerrte Tatsachen über die UOK artikuliert. Er beschuldigt die UOK aller Sünden und findet gleichzeitig keine Gelegenheit, seine Position zu erklären und alles zu tun, um einen Dialog zwischen der Kirche und dem Staat der Ukraine zu entwickeln.“ Man bemühe sich aber weiter um eine Verlängerung des Pachtvertrags für die Lawra.
Nichts schadet der UOK in ihrem Bemühen, sich als ukrainische Kirche zu präsentieren, mehr als die Schützenhilfe aus Moskau. Wie sein Vorgänger Hilarion das innerkirchliche Ringen zwischen Moskau und Konstantinopel um die ukrainische Orthodoxie ins Zwielicht staatlicher Religionspolitik zu rücken versuchte, klagte der neue Außenamtschef der russischen Orthodoxie, Metropolit Antonij, per Videostream zugeschaltet auf der Sitzung des UN-Sicherheitsrates am 17. Januar über die „eklatante Verletzung der universellen und verfassungsmäßigen Rechte orthodoxer Gläubiger in der Ukraine“. Wie Putin und Kyrill argumentierte er, dass das orthodoxe Christentum „die gemeinsame spirituelle und kulturelle Grundlage für das Leben der Völker Russlands und der Ukraine“ sei. Nun aber versuche „die ukrainische Führung, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche zu zerstören“.
Dramatischer als solche Einseitigkeit ist für die UOK, dass ihre Behauptung, von Moskau autonom zu sein, durch die Anwaltschaft des Moskauer Patriarchats Lügen gestraft wird. Nicht nur Metropolit Antonij agiert international, als sei die UOK weiter ein Teil der russischen Orthodoxie. Auch deren Oberhaupt, der Putin ganz ergebene Patriarch Kyrill, rief andere Kirchenoberhäupter, ja sogar die Vereinten Nationen, die OSZE und den Europarat vor wenigen Tagen auf, die „Zwangsschließung“ des Kiewer Höhlenklosters zu verhindern. Kyrill bezeichnete die Lawra als Wurzel „der gemeinsamen spirituellen und klösterlichen Tradition der russischen, ukrainischen und belarussischen Völker“, ja als die „Wiege unserer Zivilisation“.
Einsatz des Moskauer Patriarchats schadet der UOK
Als müssten sie belegen, dass in Russland Staat und Orthodoxie im Gleichschritt marschieren, sprangen Putins Sprecher Dmitri Peskow und Außenminister Sergej Lawrow der Kirche zur Seite: Peskow, offenbar hinsichtlich „Autonomie“ nicht auf dem aktuellen Stand der kirchlichen Propaganda, beklagte ein „beispielloses Verhalten“ der Kiewer Regierung „gegenüber Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche“ und forderte „die Weltgemeinschaft“ auf, zu reagieren. Lawrow sandte Protestbriefe an die Vereinten Nationen und die OSZE, in denen er die „repressive Politik des Kiewer Regimes“ rügte, die auf eine „Zerstörung der ukrainisch-orthodoxen Kirche“ und die „Verfolgung der kanonischen Kirche“ abziele. Der Außenminister Russlands meint also beurteilen zu dürfen, welche Kirche in der Ukraine „kanonisch“ ist. Solche Anwaltschaft schadet der UOK in der Ukraine.
An eine Profanierung der Lawra, wie zuletzt in der Sowjetunion, denkt die ukrainische Regierung gewiss nicht. Am 7. Januar feierte das Oberhaupt der autokephalen Orthodoxie, Metropolit Epifanij, hier offiziell die Weihnachtsliturgie. Vor wenigen Tagen stellte Epifanij klar, dass „die Schließung des Klosters, die Einstellung des Gebets, der Gottesdienste und des klösterlichen Lebens nicht infrage kommt“. Zynisch sei es vielmehr, wenn Bischöfe, die lange eng mit der Kommunistischen Partei verbunden waren, nun einen Vergleich des aktuellen Regierungshandelns mit der Sowjetzeit zögen. Unter ihrer heutigen Führung sei die Lawra „bewusst zu einem Zentrum der Verbreitung der Ideologie der 'russischen Welt' gemacht worden“, jener Ideologie also, „die als Rechtfertigung für Russlands Krieg gegen die Ukraine dient“. Epifanijs „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ steht nun bereit, die UOK abzulösen – nicht nur, aber auch im Kiewer Höhlenkloster. Wörtlich sagte der Metropolit, dass „die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats in der Ukraine weder eine kanonische noch eine moralische Perspektive“ habe. Darum hoffe er, „dass bald das endgültige Verbot des Einflusses Moskaus auf das ukrainische Kirchenleben durch staatliches Recht bestätigt wird“.
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