Mit Staunen habe man gesehen, wie die Welt sich verändert, blickte der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, auf die Wendejahre vor mehr als drei Jahrzehnten zurück. Und mit Blick auf den 30. Geburtstag des Osteuropa-Hilfswerks der deutschen Katholiken, „Renovabis“, sagte Marx bei einer feierlichen Vesper am Dienstagabend in der Münchner St. Sylvester-Kirche, es gehe nicht nur darum, Häuser zu errichten und Kirchen zu renovieren, „sondern Geister zu bewegen“. Wider die damalige These von einem „Ende der Geschichte“ meinte der Münchner Kardinal, Weltgeschichte sei „in Bewegung, vom Geist Gottes vorangetrieben“. Wörtlich sagte er: „Der Geist Gottes treibt die Geschichte auf ein Ziel zu.“
Kardinal Marx würdigte anlässlich des Renovabis-Jubiläums Papst Johannes Paul II. als eine „zentrale Gestalt“ der Wendejahre. „Sein Mut und seine Kraft haben uns alle begeistert!“ Johannes Paul II. gehöre zu den Gründervätern Europas. Marx warnte zugleich, man dürfe „nicht Teil der Polarisierung und der Angst“ werden, sondern müsse auf Dialog und Brückenbau setzen. Die Kirche habe Anteil an der Erneuerung Europas. Darum sei es „inakzeptabel, dass aus den Kirchen Stimmen kommen, die den Präsidenten Russlands verteidigen und rechtfertigen“, so der Münchner Kardinal mit Blick auf die russische Orthodoxie. „Das ist nicht hinnehmbar.“ Die Kirchen müssten „auf der Seite der Freiheit stehen“.
„Fremdeln mit der Demokratie“
Nach der feierlichen Vesper, mit der der Renovabis-Jubiläumskongress in München eröffnet wurde, war der Auftritt des früheren deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck der Höhepunkt der Festveranstaltung in der Katholischen Akademie. Er warnte, das vorbereitete Manuskript links liegen lassend: „Wenn man die Freiheit lange genießt, vergisst man häufig ihren Wert.“ Das sei das Problem im Westen gewesen, während manche Völker in Osteuropa heute noch Transformationsgesellschaften seien. „Mentalitäten ändern sich langsam“, so Gauck. In vielen Ländern Mittel- und Osteuropas gebe es ein „Fremdeln mit der Demokratie“. Demgegenüber mahnte der frühere Bundespräsident: „Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung.“
Ganz im Gegensatz dazu würden sich nationale Populismen breit machen. Gauck warnte die Westeuropäer davor, auf die Menschen in den Transformations-Gesellschaften und ihre Bindung an die Vergangenheit herabzublicken. In die „nach-totalitären Systeme“ müsse man „mit unserem Konzept der christlichen Nächstenliebe“ gehen. Vielfach jedoch würde eine „Überfülle von Meinungen anstelle von Fakten“ dominieren; das sei tröstend nur für die, die sich der harten Wirklichkeit nicht stellen, so der vormalige deutsche Präsident.
Scharf kritisierte Gauck, dass in der deutschen Politik „ein freundliches Wunschdenken“ gegenüber Wladimir Putin geherrscht habe. Statt das reale Bedrohungspotenzial wahrzunehmen, habe man sich einem Wunschdenken hingegeben, sagte Gauck und nannte in diesem Zusammenhang die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel ausdrücklich beim Namen, weil sie Nord-Stream-2 als „privatwirtschaftliches Projekt“ bezeichnet hatte. Nachsatz Gauck: „Wir waren alle gefangen durch unseren Willen, eine friedliebende Nation zu sein.“ Putin jedoch verfolge einen „neoimperialen Weg“, leugne die Universalität der Menschenrechte und habe einen „Angst-Apparat“ aufgebaut, der auf „Herrschaftswissen aus Sowjetzeiten“ beruhe.
Wörtlich sagte der ehemalige Bundespräsident beim Renovabis-Kongress: „Die Bibel weiß sehr viel über Feindschaft und die Realität des Bösen. Aber das haben wir Christen vergessen.“ Es brauche eine neue „Entschlossenheit der Friedliebenden“. Diese Friedensliebe dürfe aber „nicht in romantischen Träumen enden“, so Gauck, der seine vorbereitete Rede ignorierte und frei sprach. Mit dem Aufruf „Widersteht dem Bösen!“ verband er die Forderung, die Ukrainer zu unterstützen und „Netzwerke der Guten und des Guten“ zu errichten. Zuvor hatte der bayerische Staatsminister Florian Herrmann die Arbeit von Renovabis als „großen christlichen Dienst“ gewürdigt, der auch die Unterstützung des Staates verdiene. Der Freistaat Bayern unterstütze die Beitrittsperspektive der südosteuropäischen Länder wie er auch die EU-Beitritte vieler osteuropäischer Staaten unterstützt habe. Besondern wichtig sei jedoch heute der Einsatz für die Menschen in der Ukraine. „Der Christ hilft in der Not!“, sagte Herrmann, der in diesem Zusammenhang die Finanzhilfen des Freistaates Bayern für die zivile Infrastruktur in der Ukraine referierte. Herrmann wörtlich: „Christen sollten Verantwortung übernehmen. Christsein darf nie nur jenseitig sein!“ Aus dieser Erkenntnis sei Renovabis eine „Stimme für Mitmenschlichkeit“ geworden.
„Wir haben gewarnt, als Putin an die Macht kam“
Mit Blick auf die Gründungsgeschichte des Hilfswerks Renovabis vor drei Jahrzehnten sagte der langjährige Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Jesuitenpater Hans Langendörfer, es habe sich damals die Einsicht durchgesetzt, dass eine einmalige Kollekte nicht genug sei, sondern Dauer erforderlich sei: „Die Freiheit muss gestaltet werden.“ Beim Engagement in Osteuropa brauche es Geduld, insbesondere angesichts von Enttäuschungen. Für einen „Weg der Aufklärung“ plädierte in München Irina Shcherbakova, eine der Mitbegründerinnen der russischen, 2022 mit dem Friedensnobelpreis geehrten, aber von Putin verfolgten Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Ihre Organisation habe „verloren, aber wir haben gewarnt, seit Putin an die Macht kam“, so die Menschenrechtsaktivistin. Sie kritisierte auch die Leitung der Russisch-Orthodoxen Kirche, die den Staat bedingungslos unterstütze, „statt anzuerkennen, dass der Staat der Ursprung des Terrors war“. Während der russische Patriarch Kyrill den Krieg rechtfertige, würden in Russland Priester, die den Krieg kritisierten, verfolgt.
Die frühere deutsche Bundesministerin und CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer gestand „selbstkritisch“, dass es ab 2014 zwar auch Zweifel an Putin gegeben habe, dass aber „massive wirtschaftliche Interessen“ hinter dem Projekt Nord-Stream-2 standen. Letztlich habe man die warnenden Stimmen „in der Abwägung mit den wirtschaftlichen Interessen hintangestellt“.
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