Vor 150 Jahren, am 18. Juli 1870, wurde am Ende des Ersten Vatikanischen Konzils feierlich die päpstliche Unfehlbarkeit als Dogma proklamiert. Auch die zuvor abgereisten meist deutschen Minderheitsbischöfe haben es angenommen, die Ablehnenden dagegen gründeten in einer schismatischen "Utrechter Union" den Altkatholizismus, der auch andere Kirchenlehren nicht annimmt. In der entsprechenden dogmatischen Konstitution "Pastor aeternus" über die Kirche Christi heißt es nach Überlegungen zum Primat des Bischofs von Rom, dass es ein von Gott geoffenbartes Dogma ist: "Wenn der römische Bischof ex cathedra spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, dass eine Glaubens- oder Sittenlehre von der gesamten Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistandes jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte; und daher sind solche Definitionen des Römischen Bischofs aus sich ("ex sese"), nicht aber aufgrund der Zustimmung ("consensu") der Kirche unabänderlich" (DH 3074).
Zuspitzung der altkirchlichen Primatslehre
Anders als sein geistlicher Freund, der inzwischen heiliggesprochene Dogmengeschichtler, Konvertit und Kardinal John Henry Newman, konnte der aus Bamberg stammende Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger die Entwicklung zu diesem neuen Dogma, das die in der biblischen Offenbarung bei Matthäus 16,18f ("Du bist Petrus und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen") grundgelegte Lehre vom Primat Petri vollendet, nicht nachvollziehen. Er wurde wegen seiner heftigen Kritik 1871 von der Kirche exkommuniziert, trat aber nicht den Altkatholiken bei. Für den bedeutenden Kölner Theologen Matthias Scheeben dagegen war das neue Dogma eine im Übernatürlichen zu verankernde Zuspitzung der altkirchlichen Primatslehre, die sozusagen die petrinische Ergänzung zur mariologischen Zuspitzung des 1854 vom selben Papst Pius IX. verkündeten Dogmas von der "Unbefleckten Empfängnis Mariens" darstellt. Mit beiden neuen Dogmen, auch mit der bisher einzigen unfehlbaren "ex cathedra"-Entscheidung Papst Pius XII. zur Aufnahme Mariens in den Himmel (1950), hatte im zwanzigsten Jahrhundert der moderne (aber loyale) Jesuitentheologe Karl Rahner (1904 1984) keine Gewissensprobleme und versuchte, sie in seiner spekulativen und manchmal schwer verständlichen Art zu erläutern.
Zum hundertjährigen Jubiläum des Papstdogmas hat dann der Schweizer Theologe Hans Küng 1970 die teils populistische Anfrage "Unfehlbar?" veröffentlicht, die zu einem Bestseller wurde und eine breite Diskussion nach sich zog. Natürlich kann man den missverständlichen Begriff der "Unfehlbarkeit" kritisieren, die im strengen Sinn natürlich nur Gott zukommt und nicht eine sittlich-moralische Unfehlbarkeit des jeweiligen Papstes meint. Küng stieß sich vor allem daran, dass es verbal und literal unfehlbare Glaubenssätze geben könne, die für jeden Katholiken verbindlich seien. Hermeneutisches und geschichtliches Denken würden dem entgegenstehen. Karl Rahner widersprach Küng damals und wollte zeigen, dass es "absolut bejahbare Sätze" in der Glaubens- und Sittenlehre der Kirche gibt und weiterhin geben kann. Es kam in der Folge zu einem heftigen Disput, Rahner gab 1971 bei Herder den Küng-kritischen Sammelband "Zum Problem Unfehlbarkeit" heraus. Er konstatierte bei Küng Tendenzen zum "Protestantismus", Küng bei Rahner "Denzinger-Theologie", die nur dem Lehramt folge und weniger exegetischen und dogmenhistorischen Erkenntnissen. Dies führte zur bleibenden Entfremdung der beiden Konzilstheologen. Küng wollte auch der umstrittenen Enzyklika "Humanae vitae" (1968) die Legitimation entziehen und provozierte dann mit dem Vorschlag einer "Re-Rezeption der Papstdogmen des Vatikanum I" in einem Vorwort zu seines Schweizer Landsmannes August Bernhard Hasler historischer Arbeit "Wie der Papst unfehlbar wurde" (München 1979) einen neuen Unfehlbarkeitsstreit, der dann zusammen mit christologischen Irritationen zur Gottessohnschaft Jesu im Dezember 1979 zum Entzug seiner Lehrbefugnis führte.
Wie das Unfehlbarkeitsdogma positiv verstanden und vermittelt werden kann
Wie kann aber in zeitgenössischer Theologie das Unfehlbarkeitsdogma positiv verstanden und vermittelt werden? Es geht um die geistliche und dogmatische Zusage, dass durch den Primat Petri die Kirche in der Wahrheit bleibe und aus der Wahrheit der Offenbarung irrtumsfrei lehren könne. Joseph Ratzinger beteiligte sich damals nicht am Streit um Hans Küng, der ja in Tübingen sein Kollege war. Schon 1961 sagte er in einer Bensberger Rede zur Theologie des Konzils, "dass die Unfehlbarkeit des Papstes keine isoliert für sich bestehende Größe bildet, sondern einen besonders hervortretenden Teil einer Gesamtordnung von Wirklichkeiten, mit denen sie organisch verbunden ist" (JRGS 7/1, 92). "Es gibt so etwas wie eine Unfehlbarkeit des Glaubens in der Gesamtkirche, kraft derer sich die Gesamtkirche niemals als Ganze in die Irre führen lassen kann. Das ist der Anteil der Laien an der Unfehlbarkeit" (95). Dazu gehört auch der "Glaubenssinn der Gläubigen" (sensus fidei fidelium), der gerade in Krisenzeiten die Wachsamkeit der Theologen und Bischöfe oft übertraf. Immer sah sich Ratzinger als Anwalt der Einfachen und Kleinen im Glauben (Mt 18,6), die er vor theologischer Arroganz bewahren will. Deshalb ist ein Dogma keine zu kritisierende Bedrohung, sondern eine Hilfe und Orientierung zum wahren Glauben.
In seinem Werk "Grundlagen des Dogmas" (Kath. Dogmatik Band 1, Aachen 1997) hat Leo Kardinal Scheffczyk (1920 2005) sich ausführlich mit dem "unfehlbar sprechenden Lehramt" (108-131) befasst. Missdeutungen des Begriffs wurden aufgezeigt und sein Inhalt geklärt. "Die Kirche betrachtet die Unfehlbarkeit nicht als eigene Leistung und als Gegenstand der Selbstüberhebung, sondern als Gabe Gottes, die ihr durch Jesus Christus im Heiligen Geist zuteil wurde" (112). Die Unfehlbarkeit des Papstes ist nicht eine unorganische "absolutistische Gewalt", sondern in der alten Kirche grundgelegt und an ganz bestimmte Rahmenbedingungen gebunden. Bei Kathedralentscheidungen wie 1854 und 1950 wurde trotz des "ex sese" ein Votum des Weltepiskopates eingeholt. Scheffczyk zitiert John Henry Newmans auf die Infallibilität bezogenen wichtigen Satz: "Entweder ist überhaupt keine Offenbarung gegeben worden, oder sie ist mit den nötigen Mitteln versehen worden, ihre Objektivität der Welt einzuprägen." Dass diese Objektivität immer wieder auf Widerspruch stößt, kann man mit Hans Urs von Balthasar auch einen "antirömischen Affekt" nennen. Viele anstößige Lehren der Kirche versteht nur, wer Kirche und Sakramente wieder als Mysterien des Glaubens zu sehen vermag.
Der Papst hat ein eigenes Charisma
Nachdem der Würzburger Theologe Wolfgang Klausnitzer das vorwiegend geschichtliche und ökumenisch-fundamentaltheologische große Werk "Der Primat des Bischofs von Rom" (Freiburg 2004) vorlegte, hat der damalige Präfekt der römischen Glaubenskongregation, Gerhard Kardinal Müller, in einem magistralen Buch "Der Papst. Sendung und Auftrag" (Freiburg 2017) theologisch und historisch breit dargelegt, wie der Primat des Nachfolgers Petri im Geheimnis der Kirche integriert werden kann, wie sich die Lehren des Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzils über den Papst und das Bischofskollegium in der Kirchenkonstitution "Lumen gentium" (1964) ergänzen. Müller betont, dass der Papst nicht bloß der Vorsitzende einer globalen Bischofskonferenz sei, sondern als sichtbares Haupt des Bischofskollegiums ein eigenes Charisma habe, das das Charisma der Bischöfe nicht hemme, sondern fördere.
Das Dogma zum Lehr- und Jurisdiktionsprimat des Bischofs von Rom ist "rein offenbarungstheologisch und ekklesiologisch begründet" (343) und sichere Papst und Kirche Unabhängigkeit gegenüber einem intellektuellen und ethischen Relativismus, aber auch gegenüber nationalkirchlichen Vereinnahmungen. Ökumenisch wäre dabei von den orthodoxen Ostkirchen nach einem bekannten Ratzinger-Wort nicht mehr, aber auch nicht weniger an Primatslehre anzuerkennen als diejenige, die der ungeteilten katholischen Kirche im ersten Jahrtausend gemeinsam war. Schwieriger wird ein Einvernehmen mit den so unterschiedlichen protestantischen Kirchen, die keine apostolische Sukzession und auch kein eigentliches Bischofsamt kennen. Ihnen gegenüber wäre auf die Ökumene-Enzyklika "Ut unum sint" Papst Johannes Pauls II. hinzuweisen und mit dem kürzlich verstorbenen Neutestamentler Klaus Berger auf eine "Theologie der Anerkennung und Unterwerfung", die Paulus trotz des "antiochenischen Zwischenfalls" (Gal 2, 11 21) gegenüber Petrus stets praktizierte.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe