München/Mossul

Christlicher Hilferuf im Irak

Eine Umfrage von "Kirche in Not" unter irakischen Christen zeigt deren Angst vor einer Rückkehr des IS. Ein neuer Exodus droht.
Christen im Irak
Foto: Archiv | "Ohne abgestimmte und sofortige politische Aktion werden die Christen in der Ninive-Ebene und Umgebung ausgelöscht werden", warnt Andrzej Halemba, Nahost-Referent von Kirche in Not.

Wirklich überraschend ist es nicht, was eine Umfrage des Hilfswerks "Kirche in Not" jetzt zu Tage gefördert hat. Aber wohl noch nie ist die Stimmungslage unter den verbliebenen Christen des Irak nach dem Sieg über den IS empirisch so präzise erfasst worden. Einer am Dienstag veröffentlichten Studie zufolge fühlen sich 87 Prozent der Christen im Nordirak "spürbar" oder "deutlich" bedroht. Sie fürchten eine Rückkehr des IS, aber auch Übergriffe lokaler Milizen. Mehr als zwei Drittel der Befragten tragen sich deshalb mit dem Gedanken, wieder auszuwandern - und das, obwohl viele von ihnen erst vor kurzer Zeit wieder in ihre uralte Heimat zurückgekehrt waren. 

Zehntausende Christen verließen das Land

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Zur Erinnerung: Zwischen 100.000 und 120.000 Christen waren im Laufe des Sommers 2014 vor dem vorrückenden IS geflohen. Nachdem im Juni erst die nordirakische Metropole Mossul mit einer bedeutenden christlichen Gemeinde überrannt worden war, fiel Anfang August die Ninive-Ebene mit ihren zahlreichen christlichen Ortschaften in die Hände der islamistischen Gotteskrieger, darunter Karakosch, die größte christliche Stadt des Irak. Um ihr Kernland vor dem IS zu schützen, hatten sich die kurdischen Peschmerga-Milizen plötzlich zurückgezogen - und damit zehntausende Christen schutzlos zurückgelassen.

Ein Exodus in die verbliebenen kurdisch kontrollierten Gebiete begann. Zehntausende verließen das Land ganz und suchten Schutz im arabischen Ausland oder gingen gleich in den Westen. Seit 2016 wurde das Gebiet schrittweise zurückerobert und der IS durch eine Koalition aus Amerikanern, regulären Streitkräften und Milizen geschlagen. Mit beispiellosen Anstrengungen bemüht sich "Kirche in Not" zusammen mit anderen Hilfswerken und staatlichen Unterstützern wie Ungarn seither um einen Wiederaufbau der vom IS ganz oder teilweise zerstörten christlichen Häuser. Ein Kraftakt, der Früchte getragen hat: Fast 50 Prozent der geflohenen Familien sind seither zurückgekehrt.

Doch bleibt die Sicherheitslage prekär. Der IS ist territorial besiegt. Seine Kämpfer sind aber vielfach als Schläfer untergetaucht. Staatlicher Schutz ist kaum zu erwarten, die Bewaffnung und Ausbildung christlicher Milizen mangelhaft. Hinzu kommen Mikro-Konflikte mit benachbarten Minderheiten wie den Schabak. Die benachbarte ethnische Minderheit meist schiitischen Glaubens war an der Bekämpfung des IS beteiligt. Dafür erhält sie jetzt bei Landkauf und -raub auf Kosten der Christen freie Hand seitens der Behörden und weiß den mächtigen Iran auf ihrer Seite. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, Korruption und Diskriminierungserfahrungen lassen die verbliebenen Christen des Irak wenig optimistisch in die Zukunft schauen. Iraks Wirtschaft ist durch Corona und die Ölkrise unter größtem Druck. Politische Stabilität und Inklusion aller Bürger ist nicht in Sicht. Der IS nutzt derweil die Corona-Krise, um wieder auf sich aufmerksam zu machen. Komplexe Anschläge auf Sicherheitskräfte seit April in Kirkuk und nahe Bagdad sind ein deutliches Signal, dass mit der Gruppe weiter zu rechnen ist.

Christen in der Ninive-Ebene von der Auslöschung bedroht

Die Verantwortlichen von "Kirche in Not" geben sich keinen Illusionen hin. "Ohne abgestimmte und sofortige politische Aktion werden die Christen in der Ninive-Ebene und Umgebung ausgelöscht werden", warnt Andrzej Halemba, Nahost-Referent von "Kirche in Not" und Architekt der Hilfe für die irakischen Christen. "Die Christen haben das Gefühl, an einem Wendepunkt zu stehen, was die Möglichkeiten für Bleiben angeht." 

Weil die Zukunft der Christen weder für die Regierung in Bagdad noch für die Regierung der Kurdenregion in Erbil Priorität hat, ist ein weiteres Abschmelzen der christlichen Präsenz eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich. "Kirche in Not" hält es deshalb für möglich, dass 2024 nur noch knapp über 20 000 Christen in der Ninive-Ebene leben könnten, wo vor 2014 über 100.000 Menschen das christliche Herzland des Irak bevölkerten.

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