Der Synodale Weg beschäftigt sich betont mit sexueller Vielfalt, auch mit bisher verurteilten Praktiken, um neue Leitplanken aufzustellen. Die "Theologie des Leibes" wäre gerade dafür revolutionär. Diesem beispiellosen Entwurf Papst Johannes Pauls II. wird jedoch eher Unverständnis entgegengebracht.
"Theologie des Leibes sollte man genau anschauen. Da bin ich ein wenig skeptisch. [ ] Da wird ja die Geschlechterdifferenz sozusagen auch ein wenig mit der Trinität verbunden, sogar der Komplementarität die Gott-Ebenbildlichkeit (zugesprochen). Das hat die Kirche nie gelehrt. Sie hat immer den einzelnen Menschen gesehen, aber nicht die geschlechtliche Komplementarität als Vollendung der Gott-Ebenbildlichkeit." So Kardinal Marx am 4. September 2020. Ist das Misstrauen zutreffend?
Kühn und mitreißend
Die berühmten Auslegungen Johannes Pauls II. von 1979-1984 zielen auf die "menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan"; Liebe wird darin ganz auf den Leib durchsichtig, kühn und mitreißend. Diese Sicht ist heute für junge Menschen deutlich attraktiv: Sie lernen das Geschlecht als tiefe Sehnsucht erkennen. Erst setzt die Genesis den alles bestimmenden "Anfang" mit dem Ursakrament der Ehe, dann folgen die kraftvollen Aussagen Jesu von ihrer Unauflöslichkeit, seine Worte von der Auferstehung und deren Deutung durch Paulus. Das Hohelied öffnet schließlich das schönste antike Lob menschlicher Liebe, theologisch vertieft mit dem Buch Tobias.
"Die Zweiheit von Mann und Frau
lässt bereits die Wahrheit anschaulich werden,
dass Gott in sich selbst Liebe ist."
Im Blitzlicht zeigt sich, wie revolutionär der Ansatz ist: Tatsächlich ist nicht nur jeder Einzelne ebenbildlich mit Gott, sondern ebenso die wunderbar entfaltete "personale Gemeinschaft" von Mann und Frau. Freilich ist sie nach dem Sündenfall getrübt, doch gewinnen beide in der Auferweckung die reine Durchsicht des Leibes auf die Seele wieder, ungehemmt von egoistischen Befriedigungen oder Selbstverlust im bloßen Trieb. Der tiefste Gedanke ist, dass die Liebesgemeinschaft von Mann und Frau eine Ahnung von der Liebesgemeinschaft zwischen Vater, Sohn, Geist verleiht ja, dass sich gerade an der Zweiheit des Menschen, so geheimnisvoll sie für sich selbst schon ist, das eigentliche Geheimnis, nämlich das unerhörte, unvorstellbare schöpferische Füreinander und Ineinander des göttlichen Lebens ausdrückt. Anders: Die Zweiheit von Mann und Frau lässt bereits die Wahrheit anschaulich werden, dass Gott in sich selbst Liebe ist. Die griechischen Väter sprachen von der Perichorese: dem herrlichen "Umgang" der Dreieinheit mit sich selbst. Schon von der Betrachtung des Menschen her wäre klar, dass Gott kein in sich verschlossener Block ist, selbstgenügsam, schweigsam, vielmehr Hingabe, Gespräch, Beziehung eben Liebe. Es gibt durchaus die monotheistische Versuchung, Gott als unmitteilsam, rätselhaft, dem menschlichen Zugang schlechthin entzogen zu sehen, so fast durchgängig im Koran und in jüdischen wie christlichen Häresien. Biblisch ist das Konzept umgekehrt. Menschliche Gemeinschaft ist Abglanz der göttlichen Gemeinschaft. Statt Trauer über die zwei "Hälften" (wie im zerteilten platonischen Kugelmenschen) gilt die Seligkeit, gerade in der Zweiheit Gottes innere Dynamik abzubilden. Die Liebe von Mann und Frau wird geradezu zum Siegel der erlösten Schöpfung, das Ebenbild leuchtet gemeinsam auf. "Dieses trinitarische Verständnis vom Abbild Gottes ist der tiefste theologische Aspekt von allem, was man über den Menschen sagen kann." (Kat. 9,3; vgl. 16,3)
Vorschau auf die Erlösung
Das wird 1988 in der Enzyklika Mulieris dignitatem vertieft: "Diese Einheit der zwei , ein Zeichen der Gemeinschaft von Personen, weist darauf hin, dass zur Erschaffung des Menschen auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der göttlichen Gemeinschaft ( communio ) gehört."
Und wie die Zweiheit des Geschlechts auf Gottes personales Leben zurückweist, auf sein inneres "Spiel" von Geben und Empfangen, Reichtum und Armut, Bedürfen und Stillen, Lieben und Sich-lieben-Lassen, so gilt im vielfältigen Netz der Bezüge wiederum umgekehrt, dass Gottes Einssein auch die geschlechtliche Zweiheit zu Einem fügt. Ob man sich also dem Menschen oder Gott von der Vielfalt oder der Einheit her annähert: Immer wird die lebendige Spannung in dem Einen oder die Einheit, alle Spannung unterfangend, sichtbar. Und dies nicht als Schreibtisch-Gedanke, sondern als höchste Anstrengung jüdisch-christlicher Fassung einer großartigen Offenbarung.
Auch die Ehelosigkeit "um des Himmelreiches willen" entspringt der Liebe: Sie wirft sich auf die künftige erlöste Existenz voraus, ja wird erst im neuen Äon in voller Gestalt sichtbar. Ebenso blickt die Ehe schon in die neue Welt, wo sie umgewandelt wird in eine tiefere Gemeinschaft. Dass wir sein werden "wie die Engel im Himmel" (Lk 20,36), meint nicht ein Unterschreiten des Geschlechts, sondern ein Überschreiten. Mann und Frau werden nach dem Tod in einer anderen, und zwar innigeren Beziehung stehen, miteinander und mit Gott, als sie in der empirischen Sexualität und Fruchtbarkeit möglich war. Die Symbolik der Ehe wie der Ehelosigkeit wird künftig in unerhörter Fülle eingeholt.
Der "bräutliche" Leib
Ein Wort durchzieht den Entwurf wie ein Refrain: "bräutlich". In der heutigen aufgewühlten Sexualität bietet der Papst damit einen zweiten revolutionären Gedanken an: Der Leib ist nicht nur für sich, sondern für einen anderen Leib geschaffen. Dieses leibhafte "Brautsein" gilt wiederum für die Ehelosigkeit und die Ehe. Beide gegensätzlichen Lebensstile treffen sich darin, dass ihre unerschöpfliche Erfüllung noch aussteht; alle jetzige Liebe ist Angeld auf Zukunft. Sexuelle Erfüllung ist nicht alles, das zeigt schon ihr unvermeidlicher empirischer Spannungsabfall. Das bedeutet nicht, hiesiges Erfülltsein zu leugnen die Sprache des Leibes spricht ja von einer Beseligung. Aber sie spricht davon in der Weise des "noch mehr", noch tiefer. Gibt es die ekstatische Selbstübersteigung auch ohne leise Irritationen, ohne ernüchternde Abstürze? Gerade weil der Leib seine Beglückung erfährt, erfährt er auch den Wunsch der Steigerung. Die Spannung des Geschlechts streckt sich aus nach einer endlosen Kraftfülle: derjenigen Gottes.
Der ganze Entwurf fußt auf der ungeheuren Herausforderung des Christentums: der Fleischwerdung Gottes. Kann Gott überhaupt einen Leib annehmen? Darin liegt die eigentliche Unterscheidung von allen anderen religiösen Traditionen. caro cardo Fleisch ist der Angelpunkt, sagt die frühe Kirche.
So wird Theologie zur Schule der Personwerdung: Einübung der Sprache des Leibes; Sättigung des Daseins mit der Wahrheit des Fleisches; Fleischwerdung des Wortes in der Liebe; Entwurf zur unendlichen Fülle. Es ist dieses wunderbar Stimmige, das in sich Kraftvolle und den Blick Öffnende, das eine solche Theologie zur Quelle von Sinn und Sinnlichkeit macht. Kein Wunder, dass junge Menschen danach verlangen mehr und tiefer als nach dem Ausleben von Sex. Es ist dieser Schatz, den der Papst heben wollte. Noch nie vorher gesagt? Andeutungsweise schon bei Augustinus. Jetzt aber liegt er endlich frei.
Die Autorin ist emeritierte Professorin für Religionsphilosophie. Sie ist Mitglied des Synodalen Weges.
TL;DR:
Die berühmten Auslegungen Johannes Pauls II. von 1979-1984 zur Theologie des Leibes zielen auf die "menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan"; Liebe wird darin ganz auf den Leib durchsichtig, kühn und mitreißend. Diese Sicht ist heute für junge Menschen deutlich attraktiv: Sie lernen das Geschlecht als tiefe Sehnsucht erkennen. Im Blitzlicht zeigt sich, wie revolutionär der Ansatz ist: Tatsächlich ist nicht nur jeder Einzelne ebenbildlich mit Gott, sondern ebenso die wunderbar entfaltete "personale Gemeinschaft" von Mann und Frau. Der tiefste Gedanke ist, dass die Liebesgemeinschaft von Mann und Frau eine Ahnung von der Liebesgemeinschaft zwischen Vater, Sohn, Geist verleiht.
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