Wie geht es weiter nach Reformprozess?

Das Abenteuer radikaler Jüngerschaft

Der Synodale Weg hat die tiefe Zerrissenheit der Katholiken in Deutschland offengelegt. Wir erleben eine Kirche, in der große Teile der Leitung und derer, die sich Leitung anmaßen, römische Vorgaben ignorieren. Ein überdehnter Apparat setzt dem Massenexodus der Gläubigen, Ausdruck einer tiefen Vertrauenskrise, nichts entgegen und beschleunigt gar die Erosion des Glaubens, die Papst Franziskus 2019 in einem Brief an die deutschen Katholiken konstatiert hat. Reform ist unumgänglich. Sieben Thesen.
Die Kuppel der Kirche der archäologischen Fundstätte Al-Maghtas
Foto: Mohammad Abu Ghosh (XinHua) | Nicht die Kirche ist gescheitert: Unsere Trägheit ist an der Realität zerschellt. Doch zur Umkehr ist es nie zu spät. Wagen wir neu das Abenteuer radikaler Jüngerschaft.

I. 

Der Begriff "Reform" ist verbrannt und vielfach verzerrt. Wir müssen das kirchliche Wort "Metanoia" - Umkehr - wiedergewinnen:

"Reform" wird zumeist rein politisch und strukturell verstanden. Wesentlich ändern muss sich lediglich das "System". Wie bequem: Ich selbst kann bleiben, wie ich bin. Selbst Martin Luther hatte dagegen seine Reform-Thesen mit einem Aufruf zur "Buße", das heißt Umkehr, eröffnet: Umkehr ist ein Prozess, der den Menschen verwandelt. Auch die beste Struktur kann von einem bekehrungsunwilligen Menschen unterlaufen und instrumentalisiert werden. Echte Hinwendung zu Christus indes bleibt nicht innerlich, sondern erfasst das Umfeld und hilft uns, Strukturen zu bauen, die gleichfalls auf Christus ausgerichtet sind. Ein wichtiges Mittel auf diesem Weg ist die Beichte: Sie lehrt uns einen zugleich kritischen wie liebevollen Blick auf uns selbst und ermuntert uns dazu, an uns zu arbeiten. Das ist letztlich der Knackpunkt: Echte Erneuerung gibt es nur außerhalb der Komfort-Zone.

II.

Wir leben nicht mehr in einer blühenden Glaubenslandschaft. Wir müssen lernen, die "Wüstenmentalität" unserer Vorgänger im Glauben wiederzugewinnen und Oasen des Glaubens aktiv aufzubauen und aufzusuchen.

Wir sprechen über den Tod der Volkskirche, verhalten uns aber, als lebten wir noch in einem christlichen Europa. Nehmen wir die Glaubenswüste, die uns umgibt, als Realität wahr - und als Chance! Die Wüste ist ein Ort wertvoller spiritueller Erfahrung. Das belegen Schrift und Tradition, von Abraham bis zum heiligen Antonius. Es gibt "Oasen", in denen der Glaube blüht. Aber wir müssen sie aufsuchen: Klöster, Gemeinschaften, Kongresse. Der Gläubige ist nicht Konsument eines "Dienstleisters" Amtskirche, der ihn flächendeckend versorgt. Kirchliches Leben ist nicht nur dort möglich, wo die überkommene Struktur der Pfarrei unverändert bestehen bleibt: Das Zweite Vatikanum erinnert uns daran, dass wir ein wanderndes Gottesvolk sind. Ohne Tempel, aber mit Gott in der Mitte. Ob als Hauskirche, Bibelkreis, WhatsApp-Gruppe: Um Christus geschart können wir selbst Oasen echter Gemeinschaft anlegen.

III.

Jeder Christ muss "Kirche -Sein". Jeder Einzelne muss die durch die Taufe gestiftete Identität mit der Kirche wiedergewinnen. Unser Kirche Sein ist kein Privileg, sondern Aufgabe und Dienst.

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"Teilhabe" wird weithin als Privileg aufgefasst: Die Würde, die wir als Getaufte haben, soll uns dazu berechtigen, Macht auszuüben. Laut "Lumen Gentium" aber ist Kirche ein "allumfassendes Heilssakrament" (LG 48). Unsere Teilhabe besteht darin, auf sakramentale Weise zu dienen: Als Heilsmittel und als Vermittler dessen, was wir in der Taufe empfangen haben. Wir machen uns das Sein der Kirche zu eigen, nicht andersherum. Dazu bedarf es umfassender Bildung. Es ist unverzichtbar, rational Rechenschaft über den Glauben ablegen zu können. Viele Rufe nach Veränderung der Lehre beziehen sich auf Verkürzungen und Irrtümer, die die Kirche nie gelehrt, oft sogar selbst verurteilt hat. Weil das Glaubenswissen darniederliegt, bleiben diese Falschaussagen unwidersprochen. Es ist an uns, das zu verändern: Unser Christsein ist ein lebenslanges geistliches und geistiges Lernen. Studieren wir die Texte der Schrift, der Heiligen, des Lehramts: Erkennen wir unsere tiefste Identität in unserer Teilhabe an der Kirche.

IV.

Die Ablehnung des Kreuzes ist ein Zeichen unserer Zeit. Wir brauchen deshalb eine neue Kreuzerhöhung, eine Wiedergewinnung und Neuentdeckung des Kreuzes als Angelpunkt unseres Glaubens.

Das Kreuz ist der Welt eine unerträgliche Realität: Wir erleben eine Gesellschaft, die zunehmend versucht, sich nicht nur des Leids, sondern auch des Leidenden zu entledigen, um nicht mehr mitleiden zu müssen. Auch die Kirche ist nicht frei davon: Insbesondere Leid, das aus persönlicher Sünde resultiert, wird wegretuschiert, indem man die Sünde für gut erklärt. So wird der verwundete Sünder aus dem "Feldlazarett" - so bezeichnet Papst Franziskus die Kirche - ausgeschlossen. Wir müssen wieder lernen, unseren Blick fest auf das Kreuz zu richten, unser Leid miteinander zu teilen. Dann schaffen wir mit der Kirche einen Raum, in dem sich tatsächlich jeder angenommen weiß.

V.

Eine Kirche, die nicht missionarisch ist, verfehlt ihren Auftrag. Darum müssen wir den Begriff "Aggiornamento" von seinem ideologischen Ballast befreien: Er bedeutet nicht, sich der Zeit anzupassen, sondern, die Verkündigung des Evangeliums der Zeit gemäß vorzunehmen.

Es besteht das Vorurteil, dass unsere Zeit wenig empfänglich für den Glauben sei. Das stimmt nicht: Überall dürsten Menschen nach Liebe, Schönheit, Wahrheit und Heil. Allerdings müssen wir bereit sein, Antworten auf die Sinnsuche zu geben. Wir müssen eine zeitgemäße Sprache entwickeln, um Ideologien abzuwehren, die Scheinlösungen anbieten oder das Sehnen der Menschen als Illusion verwerfen. Zugleich haben wir den Auftrag, den Reichtum der Kirche, ihre Ausdrucksformen und Sprache an eine verarmte Gesellschaft weiterzugeben. Was wir nicht können: anderen Wahrheit oktroyieren. Wir haben viele Möglichkeiten, Menschen zu Christus zu führen, wenn wir uns darauf einlassen, geduldig und liebevoll um jede einzelne Seele zu ringen.

VI. 

Eine liebende Kirche muss die Communio leben. Strömungen und "Lager" müssen sich der Communio in Christus unterordnen, wir müssen einander zuhören und Vertrauen zueinander erarbeiten.

Oft fehlt uns in der Kirche Mut zum Zuhören. Das Streben danach, den Andern wirklich zu verstehen, leidet unter dem Versuch, die eigene Macht, Meinung und Souveränität zu behaupten. So entsteht eine Kirche gegenseitigen Misstrauens. Vertrauen können wir einander aber nur, wenn wir dieses Vertrauen in Jesus verankern. Denn wir sind schwach und werden einander immer wieder enttäuschen, werden dem Andern nicht gerecht. Christuserkenntnis und Selbsterkenntnis gehen Hand in Hand: Lernen wir Jesus kennen in Anbetung und Eucharistie. Lernen wir uns kennen durch Gewissenserforschung, Selbstreflexion und Beichte. So werden wir uns der eigenen Schwäche bewusst, lernen aber auch, dass Jesus ersetzen will, was uns fehlt. Im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit werden wir vergebungsfähig. Jeder von uns kann konkrete Schritte gehen, um in Christus eine Gemeinschaft zu bauen, die glaubwürdig und einladend ist.

VII. 

Eine relevante Kirche definiert sich nicht über Zahlen und materielle Güter. Wir müssen aufgeben, was uns hindert, das Evangelium zu leben.

Einer der schmerzhaftesten Umbrüche, die wir verkraften müssen, ist der Übergang von einer gesellschaftlich einflussreichen Instanz zu einer nach außen hin bedeutungslosen. Die Beharrungskräfte sind allerdings enorm: Die Geldströme, die die Kirche überfluten, versiegen vorerst trotz massiven Mitgliederschwunds nicht. Wir können diese Strukturen nicht ändern, aber wir können unseren Blick von ihnen lösen. Niemand nimmt uns, Gebetsgruppen, Netzwerke und Orte des Austauschs aufzubauen. Wir müssen lediglich den Mut haben, mündig und verantwortlich unseren Glauben zu leben. Wir können von den frühen Christen lernen, wie eine kreative Minderheit mit Gebet, Selbsthingabe und Anstrengung ein ganzes Weltreich unter das Zeichen des Kreuzes hat stellen können. Gott hat uns einen Auftrag gegeben. Wir wähnten uns klüger als er. Statt den evangelischen Räten zu folgen, haben wir versucht, diesen Auftrag an Apparate, Gremien und Räte abzugeben. Nicht die Kirche ist gescheitert: Unsere Trägheit ist an der Realität zerschellt. Doch zur Umkehr ist es nie zu spät. Wagen wir neu das Abenteuer radikaler Jüngerschaft.

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