Im Dezember 1941 schrieb Edith Stein aus dem Karmel im niederländischen Echt an ihre Priorin: „Eine scientia crucis (Kreuzeswissenschaft) kann man nur gewinnen, wenn man das Kreuz gründlich zu spüren bekommt. Davon war ich vom ersten Augenblick an überzeugt und habe von Herzen: Ave, Crux, spes unica! gesagt“. Diese Worte – „Sei gegrüßt, o Kreuz, einzige Hoffnung“ –, mit denen die Ordensfrau auch ihrem Tod in Auschwitz entgegenging, stammen aus dem Hymnus Vexilla regis prodeunt aus dem sechsten Jahrhundert, der bis heute im Stundengebet der Karwoche sowie am Fest der Kreuzerhöhung zur Vesper gesungen wird. Sein Verfasser, an den das Martyrologium Romanum unter dem Datum des 14. Dezember erinnert, war der „heilige Bischof Venantius Fortunatus. Er verfasste zahlreiche Heiligenviten und pries in wohlgeformten Hymnen das heilige Kreuz.“
Venantius Honorius Clementianus Fortunatus wurde um 535 in Duplavilis, dem heutigen Valdobbiabene, in einem Weinbaugebiet im oberitalienischen Venetien geboren. Er entstammte einer adligen Familie und hatte mindestens eine Schwester und einen Bruder. Um 557 ging er zum Studium nach Aquileia, wo er auf Wunsch des Bischofs – damals nach dem Papst in Rom der ranghöchste Patriarch des Westens – zum Priester geweiht werden sollte, was Venantius, wie er selber später schrieb, jedoch ablehnte. Er fühlte sich zum Dichter berufen und ging nach Ravenna, einer der bedeutendsten Städte seiner Zeit und Vorposten des byzantinischen Imperiums im Westen, um Grammatik, Rhetorik und Poetik zu studieren.
Heilung von Augenleiden
Hier wurde er von einem schweren Augenleiden befallen. In seiner Verzweiflung ging er in den Dom, benetzte seine Augen mit Öl aus der Lampe in der Kapelle des heiligen Martin von Tours und gelobte diesem eine Wallfahrt zu seinem Grab, wenn er geheilt werden würde. Tatsächlich blieb ihm sein Augenlicht erhalten, und er machte sich im Jahr 565 auf die lange Reise nach Tours im östlichen Frankenreich, um sein Gelübde zu erfüllen. Dort betete er am Grab des heiligen Martin und schrieb ein Lobgedicht auf ihn.
Hier in der Provinz fand Venantius mit seiner klassischen Bildung und seinem poetischen Talent viele Bewunderer. Schnell bekam er Eintritt in die höchsten Kreise der Gesellschaft und veröffentlichte Gedichte, Heiligenviten und Lebensbeschreibungen bedeutender Persönlichkeiten. Ausschlaggebend für Venantius'‘ weiteres Leben war seine Begegnung mit Radegund, der Witwe des Frankenkönigs Clothar I. Diese hatte zusammen mit ihrer Adoptivtochter Agnes in Poitiers das erste Frauenkloster Europas gegründet, in dem etwa 200 Nonnen lebten. Hier ließ Venantius sich nieder, ließ sich jetzt doch zum Priester weihen und wurde der geistliche Berater Radegunds und ihrer Mitschwestern, während er seine dichterische Arbeit fortsetzte. In dieser Zeit schrieb er nicht nur ein eindrucksvolles Porträt der später heiliggesprochenen Radegund, sondern auch kulturell interessante Gelegenheitsgedichte, wie etwa die Beschreibung einer Moselfahrt von Koblenz bis Andernach und Leutesberg, die er zusammen mit dem Merowingerkönig Childebert II. unternahm. In allen Werken kommt nicht nur seine klassische lateinische Bildung zum Ausdruck, sondern sie stehen auch theologisch auf der soliden Grundlage seiner tiefen Kenntnisse der Heiligen Schrift und der Kirchenväter.
567 kamen einige Fragmente des Heiligen Kreuzes in Poitiers an, als Geschenk des oströmischen Kaiserhauses. Für ihre feierliche Prozession durch die Stadt in die Klosterkirche verfasste Venantius das bereits erwähnte Vexilla regis prodeunt und den Hymnus Pange lingua, der bis heute am Karfreitag zur Kreuzverehrung gesungen wird. 700 Jahre später diente er dem heiligen Thomas von Aquin als Vorlage für seinen gleichnamigen eucharistischen Hymnus.
Als 573 der Bischof von Poitiers starb, wurde Venantius zu seinem Nachfolger gewählt. Sein genaues Todesjahr ist unbekannt, aber als sein Todestag gilt von alters her der 14. Dezember.
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