Von einem einzigen Satz war ich sofort gefangen: „Wilde Dankbarkeit.“ Ein Roman, in dem sich dieser Satz findet, muss beglücken. Ist doch darin ausgesprochen, was ich am meisten schätze: Das Spontane und Unzensierte (der Traum meiner Generation); aber in der großzügigsten Weise der Welt gegenüber, nicht als Klage- und Anklageschrift, wie man sie sonst aus dem Feminismus kennt.
Die Natur ist großzügig
Der Roman, soeben erschienen, heißt „Späte Gäste“, verfasst wurde er von Gertrud Leutenegger. Er spielt in der südlichen, an die Lombardei grenzenden Schweiz, und in Italien. Großzügig ist dort die Natur selbst: Kastanien, Ginster, aber auch schon Palmen! In der Erinnerung dringt „der Duft von eingekochten Johannisbeeren zu uns“, ein anderes Mal ist es der betäubende Geruch des wilden Thymians. Orion, ein Mann, den die Erzählerin einst sehr liebte und mit dem sie ein Kind großzog, ist gestorben. Als es schon dunkelt, hält sie eine Art Totenwache vor der Friedhofskapelle, in der man seinen Sarg aufgebahrt hat. Orion „hat geduldig gewartet, bis der Tod ihn holte zu dieser letzten Überfahrt. Er hat sich kein Leid angetan!“
„Die Religion hat weniger den Charakter steiler Theologie
als den des Volksglaubens“
Gerade das ist der Grund ihrer wilden Dankbarkeit. Vielleicht war sie auch Orions eigene Haltung, indem er nicht die ultimative Beschwerde und Anklage gegen das Leben vorbrachte: indem er sich nicht selbst tötete. Schon wird die Grundstimmung, Grundhaltung dieser Erzählerin klar. Solche Festigkeit kommt, wie der Roman auf diskrete, unaufdringliche Weise klar macht, aus einem Glauben. Nicht dass Gertrud Leutenegger uns mit Bekenntnissen zur Last fallen würde. Nur ist alles auf wundersame Weise in eine Zeit des Kirchenjahres und in eine Topographie der Kirchen und Kapellen gestellt. Von der Dreikönigsnacht, Allerheiligen und dem Agathentag hören wir, die Religion hat weniger den Charakter steiler Theologie als den des Volksglaubens, etwa in der Erwähnung von Votivtafeln.
Ein Traum vom großen Frieden
Was es mit den „späten Gästen“ des Buchtitels auf sich hat, erfährt man mit der Zeit. Es sind Migranten, in Lesbos angekommen, via Sizilien hierher gewandert. Auch bei diesem Thema herrscht die Atmosphäre eines großen Wunders, die ins Märchenhafte führt. Weder geht von den Neuankömmlingen eine Drohung aus, noch gibt es irgendwelche fremdenfeindlichen Reaktionen der Eingesessenen. Sofort finden sie sich in die örtlichen Karnevalssitten, indem sie sich mit den typisierten Kostümen der „Hässlichen“ ausstaffieren. Wir wissen seit kurzem vom Bundeskriminalamt, dass die Wirklichkeit anders aussieht: Im Jahr 2019 wurden deutlich mehr Deutsche zu Opfern einer Gewalttat von Asylsuchenden, als es umgekehrt der Fall war. Das wiegt umso schwerer, als die Deutschen ja in der Überzahl sind, die Gewaltbereitschaft also bei den Angekommenen exorbitant sein muss. Der Karneval (die Roman-Zeit) ist aber eine Zwischen-Zeit, in der die sonst geltenden Regeln außer Kraft gesetzt sind. Gestehen wir also Gertrud Leutenegger ihren Traum des großen Friedens zu.
Der Roman hat ungeheure Schönheiten. Ein Abend, die Nacht und der Morgen bilden den zeitlichen Rahmen. Die Erzählerin berichtet, was vorher geschah. Dann, am Ende, kommen die ersten Sonnenstrahlen des Tages der Totenmesse für Orion. Die „Hässlichen“ sind so unmerklich verschwunden, wie sie gekommen waren. „Ungläubig drehe ich mich um zum Wirt. Da trifft mich sein Blick, in dem das versammelte Schweigen der vergangenen Jahre ruht, der unverbrüchliche Halt, der Glaube, mit dem er mein ganzes Wesen erwärmt hat. Es ist Zeit, sagt der Wirt, die Glocken läuten schon.“ Dieses Buch leuchtet von innen.
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