Zweihundert Jahre Karl Marx gilt es heuer zu feiern. Und war er nicht wirklich ein Kopf von erschreckender Wucht und von einer Klarheit, zu der andere den Mut und die Vehemenz nicht fanden? „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“ – so sicher seiner Sache verkündete es der erst Fünfundzwanzigjährige in einer seiner frühen Schriften: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von 1843.
Und Marx hat ja Recht. Er meint mit „Kritik“ natürlich nicht die Kritik an diesem oder jenem Übel (damit hätte die Religion nichts zu tun), sondern stillschweigend vorausgesetzt wird eine Totalkritik, die vom Kritisierten keinen Stein auf dem andern lässt. Das „menschliche Wesen“, so Marx, habe in den bestehenden Ordnungen „keine wahre Wirklichkeit“. Der Kampf gegen die Religion sei also „mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist“. Solange es die Religion gibt, kann das „menschliche Wesen“ nicht zu seiner Blüte kommen. Das Heilige ist demnach eine verzerrte Spiegelung des Menschen: „Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat.“ Sich selbst muss der Mensch also finden, er ist das aufgelöste Rätsel. „Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt.“
Die Philosophie, die den Menschen auf den Thron Gottes setzt, nennen wir „Humanismus“ im strengen Sinn und grenzen sie ab vom Alltagsgebrauch des Wortes, mit dem bloß eine menschenfreundliche und menschenwürdige Haltung gemeint sein mag. Man könnte bei der Philosophie auch von einem Totalhumanismus sprechen, weil der Blick auf ein Gegenüber des Menschen, auf göttliche Gebote, nun versperrt ist. Noch einmal Marx: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ Weil alles ein Gemachtes ist, kann es neu und willkürlich anders gemacht werden. Deshalb nennen sich religionsfeindliche Gruppen zum Beispiel „Humanistische Union“ – nicht weil sie besonders menschenfreundlich wären, sondern weil sie in einem metaphysischen Sinne Humanisten sind, wie Marx es war. Die Humanistische Union, so lesen wir in ihrer Selbstdarstellung, „setzt sich dafür ein, dass jeder Mensch frei und selbstbestimmt darüber entscheiden kann, wann und wie er sterben möchte“. Von Beginn an kämpften die „Humanisten“ auch gegen die Strafbarkeit der Abtreibung. Herr des Lebens ist der Mensch. Und jetzt erkennen wir die tiefe Zweideutigkeit der heutigen Lage. Welcher Liberale, oder gemäßigt Linke, wird nicht vor der Radikalrevolution zurückschrecken, die Marx angepeilt hatte, wer wird nicht den „Stalinismus“ weit von sich weisen? Nur das Fundament teilt man ... den Humanismus. Man teilt eine geistige Grundlage, die deshalb nur selten in den Blick kommt, weil sie schon so verbreitet ist, so großen Einfluss hat, dass man sie für das Normale und normativ Gebotene hält. Unsichtbarkeit durch Allgegenwart!
Im vergangenen Jahr erhielt Margaret Atwood den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Gerade war sie wieder in die Schlagzeilen gekommen, weil einer ihrer Romane („Report der Magd“), nun verfilmt, die schreckliche Zukunftswelt schilderte, in der christliche Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten die Macht übernommen haben. Die Frauen, so fasste die „Welt“ den Inhalt zusammen, „werden im Namen eines totalitären Regimes versklavt und zu Gebärmaschinen gemacht“. In der Presse erschien sie als „Humanistin“ – das mochte in dem weiteren Sinne des Menschenfreundlichen gemeint sein, wer hört bei so schönen Worten schon genau hin. In den Vereinigten Staaten erhielt sie 1987 den Preis „Humanist of the Year“, und zwar von der American Humanist Association, die den harten, den metaphysischen Humanismus vertritt: „Für Humanisten, Atheisten und Freidenker“, wie sie auf ihrer Homepage verkündet.
Feiern wir also Marx als den geistigen Vater der großen, humanistischen Koalition, die heute von Teilen der bürgerlichen Mitte bis weit nach linksaußen reicht.