Jürgen Habermas, inzwischen 91 Jahre alt, hat im vergangenen Jahr unter dem bescheidenen Titel „Auch eine Geschichte der Philosophie“ ein monumentales Werk veröffentlicht. Es ist 800 Seiten stark und umfasst zwei Bände. Der erste trägt den Untertitel „Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen“, der zweite „Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen“. Das Verhältnis von Vernunft („Wissen“) und Religion („Glauben“) ist also die verbindende Leitfrage. Habermas greift den neuzeitlichen, post-aufklärerischen Gegensatz auf; bereits Hegel hatte eine Schrift mit dem Titel „Glauben und Wissen“ verfasst.
Habermas als verlässlicher linksliberaler Stichwortgeber
Die Leistung von Habermas ist an sich schon enorm, und sie verlangt umso mehr unsere Aufmerksamkeit, als sie sich von einer rein säkularistischen oder platt atheistischen Auffassung getrennt weiß. Seit den späten fünfziger Jahren war Habermas der Stichwortgeber der Öffentlichkeit der Bundesrepublik, und zwar verlässlich von linksliberalen Positionen her. Zwar betont seine Theorie das „kommunikative Handeln“ und den im fairen Verfahren erreichten Konsens, praktisch aber waren seine Interventionen gegen philosophische oder kulturpolitische Konkurrenten oft auch von einem machiavellistischen Instinkt gesteuert. Auch diesmal hat er mit seinem Buch einen Nerv der Zeit getroffen.
Glauben und Wissen sind gut voneinander abgrenzbare geistige Haltungen. Verbunden sind sie in ihrem Anspruch, auf Wahrheit bezogen zu sein. Dabei hält der Mensch in der Haltung des Wissens eine bestimmte Distanz, er kann gegenüber dem Gewussten die Position des Neutralen einnehmen, während er im Glauben sofort engagiert ist – sonst wäre das, was seinen Geist erfüllt, eben kein Glaube. Aber sind diese beiden Geistesinhalte die einzig möglichen, stehen sie nur einfach nebeneinander? Nein. Es gibt ein Drittes. Die Mystik erlebt die Wahrheit in einer unüberbietbaren Nähe. Weder als „Glaube“ noch als „Wissen“ lässt sich die Erfahrung des Mystikers verstehen. Man spricht von „Erleuchtung“, und das ist nicht, wie man vermuten könnte, ein importiertes buddhistisches Wort, sondern bezeichnet ursprünglich einen philosophischen Grenzzustand, es wurde christlich übernommen, beim hl. Augustinus hören wir von der „Illuminatio“.
Ohne Mystik wäre unsere Selbstdeutung ärmer
Sie weiß von Gott, vom Heiligen, von der Wahrheit nicht mehr als einem äußeren „Gegenstand“, sondern in seelischer Erfahrung. In der Philosophiegeschichte von Habermas kommt die abendländische Mystik nicht vor, weder Meister Eckart noch Johannes Tauler noch Heinrich Seuse kennt das Namensregister. Für den Nachfolger der „Kritischen Theorie“ist Religion zu allererst eine „soziomoralische“ Angelegenheit und die Mystik dagegen ein exotisches Phänomen, das sich, ebenso wie der Gehalt des Wortes „Erleuchtung“, allenfalls an Buddha verdeutlichen lässt: „Die in allen Kulturen weitverbreitete Übung von Magiern, die sich in Zustände der Ekstase hineinsteigern, um mit Geistern Kontakt aufzunehmen, nimmt den Charakter der Besessenheit an. Im Buddhismus vollzieht sich die Transformation dieser Begegnung mit dem Außerordentlichen auf dem Wege einer verinnerlichenden Umkehrung der Ekstase zur Einkehr des Bewusstseins in sich.“
Schon wenn man allein von der Philosophie aus argumentiert, muss der Ausschluss der Mystik als Nachteil erscheinen – denn wie viele Worte unserer Selbstbeschreibung kommen, wie etwa „Gelassenheit“, von Meister Eckart geprägt, aus der Mystik? Wieviel ärmer wäre unsere Selbstdeutung ohne die Schätze, die die Mystiker bei ihren Expeditionen ins Seeleninnere geborgen haben?
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