Geheimnisse? Nein! Doch! Oh!
In den deutschen Medien ist es der Brauch, von den Freimaurern nur Hocherfreuliches zu berichten. „Öffnung“ heißt die aktuelle Parole. Und vergessen werden soll die alte Bestimmung, nach der ein Logenbruder vor allem verschwiegen sein und das maurerische Geheimnis wahren muss, wie es Mozart in den Lehren der „Zauberflöte“ angedeutet hatte: „Sei standhaft, duldsam und verschwiegen!“ Geheimnisse gibt es gar nicht. Sie sagen es ja selbst! „Frankfurter Freimaurer-Loge: Kein Geheimbund“, titelte die „Frankfurter Rundschau“ am 16. Februar 2017. „Freimaurer räumt mit Mythen auf“, berichtete die „Volksstimme“ am 28. September 2018. Die Logen öffnen sich immer besser und immer mehr: „Freimaurer in Stade öffnen die Tür“ („Tageblatt“ vom 6. September), „Freimaurer in Vegesack. Anker-Loge öffnet sich weiter“ („Die Norddeutsche“, 13. September). „Einblicke in die Logen: Bonner Freimaurer öffnen ihre Türen“ („Generalanzeiger“, 21. Oktober 2017).
Alles ist transparent, niemand hat die Absicht, etwas zu verbergen. Wer es nicht glaubt, dem muss geholfen werden, für die Aufklärung der Bürger kann man nicht genug tun: „NRW-Forum Düsseldorf zeigt Verschwörungstheorien in der Kunst“ („Westdeutsche Zeitung“, 26. September). Deutschlandfunk Kultur brachte am 29. September eine „Lange Nacht über den Publizisten Léo Taxil“ unter dem Titel „Schwindler aus Leidenschaft“. Taxil war in der Tat ein berüchtigter Fälscher des neunzehnten Jahrhunderts, der mit übertriebener Konspirationsphantastik hoffte, jede Kritik an der Freimaurerei unmöglich machen zu können.
Die Logen sind, wenn man den deutschen Medien glaubt, ein Thema nur für solche, die auch die Erde für eine Scheibe halten. Ist es so zu erklären, dass kein deutsches Nachrichtenmedium von einigem Ansehen bisher eine Meldung aus Italien gebracht hat, die so völlig anders klingt? Unerhört für deutsche Ohren: Die seit dem Frühjahr amtierende italienische Regierung, gebildet von zwei Protestparteien gegen das Establishment, der rechtspopulistischen Lega Nord und der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung, hat sich einen Ethik-Kodex verschrieben, der es in sich hat. Minister darf künftig niemand werden, der eine Haftstrafe verbüßt hat, gegen den ein Prozess wegen schwerer Straftaten läuft – und auch kein Freimaurer. Dies meldete die linksliberale „Libération“ am 23. Mai, nicht ohne noch vor jeder sachhaltigen Information hinzuzufügen, dass diese Nachricht „beunruhige“.
In der Tat ist damit ein europäisches Datum gesetzt. Die italienische Regierung machte die Intransparenz der Logen als Grund ihrer Entscheidung geltend. Also doch Geheimnisse? Der Regierungsbeschluss kam nicht aus heiterem Himmel, er war sogar zwingend geworden. Zugegeben, die Geschichte klingt noch bunter und krauser als Karl May, aber sie wird jedenfalls in den italienischen Medien so wiedergegeben: Im Laufe von Prozessen, die in den vergangenen Jahren gegen die sizilianische Mafia und die calabresische 'Ndrangheta geführt wurden, stieß man auf seltsame Zusammenhänge. Innerhalb der geheimen 'Ndrangheta fand man eine zweite, noch geheimere Organisationsstruktur, genannt „La Santa“, die – mittels eines Logennetzwerks – den Kontakt zwischen dem organisierten Verbrechen und der politischen Klasse besorgte. In dem sizilianischen Städtchen Castelvertrano, das mit seinen 30 000 Einwohnern als Mafia-Hochburg gilt, fand man gleich vier Logen, das sizilianische Nachrichtenportal Tp.24.it sprach am 10. Juni 2016 von einer „Hauptstadt der Freimaurerei“. In der calabresischen Stadt Vibo Valentia ließ sich die größte Freimaurer-Dichte in Italien überhaupt nachweisen. Und just dort, so liest man auf einer italienischen Wikipdia-Seite über die Provinz, behaupte die 'Ndrangheta eine eigentümliche Hegemonie, eine Vormachtstellung.
Die Deutschen reden von Verschwörungstheorien, die Italiener wissen, was Verschwörungen sind.