Von Frank Witzel, einem vielfach ausgezeichneten Schriftsteller, geboren 1955, katholisch aufgewachsen, ist im Verlag Matthes & Seitz soeben der Band „Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch I“ erschienen. Man liest: Philosophierendes Schreiben in einem Augenblick der Krise, bei der es sich um eine chronische handeln mag. Das Leiden ist ein Hauptmotiv. Wir erfahren von einer depressiven Tendenz, von Panikattacken und Angstanfällen nach Albträumen. Auseinandersetzungen mit seiner Lebensgefährtin ziehen sich durch das Buch. Im Hintergrund spielt eine Therapeutin mit. Die notierten Gedanken, in der Auseinandersetzung mit Philosophen entwickelt, sind ganz auf die Person des Verfassers bezogen, von ihm gehen die Fragen aus, er sucht nach Antworten. Deshalb sind es nicht zufällig christliche Existenzialisten wie Gabriel Marcel und Simone Weil, denen man hier öfter begegnet, allerdings auch Meister des Zen-Buddhismus.
Über eine Ehe oder Kinder erfahren wir nichts
Dieser freie Schriftsteller führt eine Existenz, die kaum von institutionalisierten Verpflichtungen strukturiert ist; über eine Ehe oder Kinder (die inzwischen erwachsen sein müssten), gar über Enkel erfahren wir nichts. So treibt sein Schiff ohne Kiel auf hoher See; objektive Gewichte, die ihm Stabilität verleihen oder sie gar erzwingen würden, sind nicht erkennbar. Er hat von vornherein ein Leben gewählt, in dem Stimmungen eine außerordentliche Rolle spielen müssen, und das die Zeit gewährt, diese Stimmungen und ihre Schwankungen zu reflektieren. Deshalb seine Fragen an die Philosophie.
"Nicht ohne Grund wurden Religionen
von Männern geschaffen. Der Ursprung
des Seelenglaubens als eine Art Gebärneid"
Frank Witzel
Das Buch verlangt Respekt. Umso mehr hat es Anspruch auf Kritik. Ich greife eine Stelle heraus: „Nicht ohne Grund wurden Religionen von Männern geschaffen. Der Ursprung des Seelenglaubens als eine Art Gebärneid.“ Ich will ganz davon absehen, dass hier nicht erläutert und argumentiert, sondern frei assoziiert wird, dass es sich an dieser Stelle also gerade nicht um eine philosophische Haltung handelt, sondern um etwas kraftlos Unverbindliches. Viel wichtiger: Es ist immer misslich, wenn ein Sachverhalt der oberen Sphären mit einem aus niederer Sphäre erklärt werden soll, hier also Religion aus Neid. Ich möchte von einer „Schule des Nichts-als“ sprechen. Irgendetwas Herrliches sei in Wahrheit, wie es dann heißt, „nichts als“ dieses oder jenes nur gerade umkostümierte Schlechte. Stolze Männlichkeit – „nichts als“ Frauenverachtung. Oder „nichts als“ ewige Rebellion gegen die Mutter. Und plötzlich kommt man drauf: Genau diese Unverbindlichkeit, Strukturlosigkeit ist ja Witzels Hauptleiden, und das „Nichts-als“ ist selbst die Depression, die sich in Scheinphilosophie verlarvt hat. Nicht Distanz wird gewonnen, keine neue Perspektive der Erkenntnis eingenommen, sondern das Leiden verdoppelt sich.
Das ewige demokratische Vorurteil gegen Ererbtes
Etwas soll durch Herunterziehen erklärt werden. Die Anmut etwa lässt Witzel erst gelten, als er sich davon überzeugt hat, sie sei erlernt und nicht angeboren. Und wir sehen das ewige demokratische Vorurteil gegen Ererbtes: Tradition gilt nicht, das Wertvolle darf nicht schon an sich da sein; wo es existiert, muss es sich durch Chancengleichheit ausweisen. Dabei argumentiert Witzel an anderer Stelle scharfsinnig gerade gegen diese Gedankenfigur. Dem Aufklärer Lessing, der die Wahrheitssuche der Wahrheit vorziehen wollte, hält er vor, den menschlichen Wert durch die Arbeit zu definieren: „Schon aus diesem Grund wäre die Religion dem sogenannten ,aufklärerischen Denken‘, das den Menschen einem durch Arbeit bestimmten Wertesystem unterwirft, vorzuziehen.“ Man liest Witzels Buch mit Gewinn, und nicht ohne Widerspruch.