„Soweit man es aus naturwissenschaftlicher Sicht beurteilen kann, hat unser Leben nicht den geringsten Sinn. Daher ist jeder Sinn, den wir unserem Leben geben, künstlich und somit reine Illusion.“
Diese Worte des Physikers und Kabarettisten Vince Ebert dürften als eine Art Konsens unserer Gesellschaft gelten. Oder vielleicht doch nicht? Schaut man in die Regale der Ratgeberliteratur, so scheinen Themen wie Selbstverwirklichung sehr wohl einen breiten Absatzmarkt zu finden.
Sinnstiftung in der Wirtschaft
Auch Unternehmen werben immer öfter mit einem sogenannten „corporate purpose“ um potentielle Mitarbeiter, also mit einem sinnstiftenden Mehrwert, den der Arbeitgeber jenseits der wirtschaftlichen Gewinnorientierung vermeintlich bieten kann. Wie ist dieser Gegensatz zu erklären?
Tatsächlich lässt er sich recht leicht auflösen, wenn man die Begriffe ein wenig genauer betrachtet. Ein Zweck (englisch: purpose) ist nämlich etwas völlig anderes als ein Sinn. Eine Handlung kann durchaus einen konkreten Zweck verfolgen, Sinn muss sie deswegen noch lange nicht haben. Das Wort „Selbstverwirklichung“ wiederum verrät schon durch die Fokussierung auf das eigene Selbst die Unmöglichkeit einer Sinnstiftung.
Wechsel der Blickrichtung
Wer sich selbst und seine eigenen Erwartungen zum Maß aller Dinge macht, landet bei der Sinnfindung zwangsläufig in der Sackgasse. Das erkannte auch bereits der Vater der modernen Sinnforschung, der österreichische Psychiater Viktor Frankl (1905–1997): „Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet!“
Mit dieser fundamentalen Wende des Blickwinkels bewegen wir uns gleichsam von der Physik zur Metaphysik und mit ihr zur Religion, in der allein eine Antwort auf die Sinnfrage gefunden werden kann, wie es der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) formulierte: „An Gott glauben, heißt sehen, dass das Leben einen Sinn hat.“
Sittlicher Wille
Allerdings ist es ein weit verbreiteter Irrtum, dass religiöse Menschen immer für alles, was in der Welt passiert, eine plausible Erklärung hätten. Die christliche Tradition hat, auch wenn sie mitunter selbst auf diesem Holzweg gewandelt ist, diesen Anspruch ihrem eigentlichen Wesen nach nicht. „Contra spem sperare“ – wider die Hoffnung hoffen, so lautet ein urchristliches Prinzip, mit dem der Apostel Paulus die Einstellung des Erzvaters Abraham beschrieb. Es ist eine trotzige Hoffnung, die nicht in weltlicher Vernunft, sondern allein im Glauben wurzelt.
„Der Gott des Evangeliums ist lebendiger, sittlicher Wille, der meinem Willen eine neue Bestimmtheit geben will. Schwimme mutig und recht! sagt er zu mir. Frage nicht, wohin du auf dem unendlichen Ozean gelangen wirst. Es ist mein Wille, dass du schwimmst“, drückte es der Arzt und Theologe Albert Schweitzer (1875–1965) aus.
Talente zugeteilt
Auch im Glauben geht es niemals darum, was wir von Gott erwarten, sondern darum, was Gott von uns erwartet. Ebenso muss man sich dafür hüten, nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Anders als bei der Wahrheit, mit der wir uns vor einigen Wochen an dieser Stelle befasst haben, ist Sinn durchaus individuell. Der Herr teilt die Talente „jedem nach seinen Fähigkeiten“ zu, wie es in dem berühmten Gleichnis heißt (Matthäus 25,14-30). Vielleicht erscheint uns unser eigenes Handeln oft unbedeutend im Vergleich zu anderen, aber ein solcher Vergleich ist nicht fruchtbar. Unser Talent ist Gottes Geschenk an uns. Was wir daraus machen, geben wir Gott zurück.
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