Das Christentum war von Anbeginn an auf Glaube und Vernunft gebaut; es hatte sich gerade dadurch von dem verbreiteten Aberglauben und den zahllosen irrationalen Kulten des spätrömischen Reiches abgesetzt. Der Kirchenvater Tertullian insistierte schon im 2. Jahrhundert, die Vernunft sei eine „Gabe Gottes“, und Gottes Schöpfung könne mit Hilfe des Verstandes begriffen werden. Die frühen Christen hatten stets eine besondere Nähe zur klassischen Philosophie, woraus sich die Vorliebe christlicher Theologen für Naturphilosophie entwickelte, Vorläuferin aller Naturwissenschaft. Als im Zuge der Völkerwanderung seit dem 5. Jahrhundert Teile Europas unter einem zivilisatorischen Einbruch und Verlust städtischer Kultur und Bildung zu leiden hatten, war die Kirche die einzige Kraft, die Kultur und Wissen am Leben erhielt.
Es waren Geistliche, die das vorhandene Wissen bewahrten und auch weiterentwickelten. Sie setzten sich unter anderem auch mit den Atomtheorien der Antike auseinander – von Augustinus bis Isidor von Sevilla, in dessen enzyklopädischem Werk „Ethymologiae“ aus dem 7. Jahrhundert auf höchstem Niveau die Atomtheorien vor allem des Epikur erörtert wurden. Auch im Mittelalter wusste man selbstverständlich, dass die Erde eine Kugel ist – der vom Kreuz gekrönte „Reichsapfel“ der Kaiser symbolisierte ja nicht die Herrschaft Christi über die Frucht des Apfelbaumes, sondern über die darin symbolisierte Erdkugel.
Das Mittelalter legte die Grundlagen unserer Wissenschaft
Autoren wie Wilhelm von Ockham (circa 1295–1349) wussten im Übrigen schon – die Irrtümer antiker Philosophen überwindend –, dass sich die Himmelskörper im luftleeren Raum bewegen. Die Grundlagen unserer Wissenschaft wurden im Hochmittelalter gelegt – nicht in der Renaissance oder gar der Aufklärungszeit. Das Prinzip wissenschaftlicher Beweisführung, der Verifizierung oder Falsifizierung von Theorien findet sich in reifer Form bei Albertus Magnus (1200–1280), einem Universalgelehrten (und zeitweise Bischof von Regensburg). In England waren es Robert Grosseteste (circa 1168–1253) und Roger Bacon (circa 1214–1294), beide ebenfalls Geistliche, die gleicherweise das wissenschaftliche Arbeiten schon in heutigem Sinne kannten.
Im europäischen Hochmittelalter wurde das Wissen und Können der klassischen Antike nicht nur bewahrt und genutzt, sondern erstmals deutlich übertroffen – auch in angewandter Wissenschaft und Technologie, vom Ackerbau über die Schifffahrt bis zur Astronomie und Biologie. Es waren Scholastiker, die in Medizin und Forensik zuerst das Sezieren menschlicher Leichname unternahmen, was weder Griechen noch Römer, weder Chinesen noch Muslime für zulässig gehalten hatten, die Kirche des Mittelalter hingegen schon. Es geschah auch nicht bei Nacht und Nebel und unter Angst entdeckt zu werden, sondern in regelrechten Hörsälen. Schon Anfang des 14. Jh. gab es ein Standard-Handbuch der Obduktion, geschrieben von Mondino de Luzzi (1270–1326).
Die Kirche vor Förderin und Beschützerin der Wissenschaft
Auch die Universität als solche ist eine Frucht des lateinischen Mittelalters. In keiner anderen Kultur konnte das Konzept der freien Gemeinschaft aller Lehrer und Forscher entstehen – denn das ist der Sinn der Universität. Über Jahrhunderte war es gerade die Katholische Kirche, die als Förderer, Beschützer und Mäzen der Universität und der Wissenschaft insgesamt auftrat.
Die Einzelfälle, in denen „Kirche gegen Wissenschaft“ zu stehen schien, sind seltene Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Sie eignen sich zwar zur Konstruktion von säkularistischen Geschichtsmythen; doch diese lösen sich in Luft auf, wenn man sie selbst mit den Methoden der Wissenschaft betrachtet.
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