Finde Deine Berufung! Diesen Satz entdeckt man in dieser oder ähnlicher Form auf zahllosen Buchcovern, auch und gerade im Bereich der christlichen Ratgeberliteratur. Die Autoren rufen ihre Leser dazu auf, nach Gottes Berufung für das eigene Leben zu suchen, und geben ihnen dazu auch gleich die nötigen Werkzeuge an die Hand. Für gewöhnlich handelt es sich dabei um Fragebögen und Tests zur Selbsteinschätzung, vor allem zu den eigenen Talenten und Vorlieben. Sind Sie eher introvertiert oder extrovertiert? Treffen Sie Entscheidungen eher mit dem Kopf oder mit dem Bauch? Würden Sie für eine Veranstaltung lieber die Webseite gestalten oder die Bühne aufbauen? Hat man alles korrekt ausgefüllt, erhält man sein Ergebnis und somit zugleich seine Berufung. Causa finita.
Berufung hat nichts mit Stärken und Talenten zu tun
Man ist geneigt zu fragen: Haben diese Autoren mal eine echte Berufungsgeschichte gelesen? Vielleicht in der Heiligen Schrift? Natürlich wäre dies eine rhetorische Frage, denn hätten sie es getan, wären ihnen einige Dinge aufgefallen.
1. Die Berufung eines Menschen erfolgt gerade nicht anhand seiner Stärken und Talente. Dass unser Herr ausgerechnet den wankelmütigen Petrus als Fels seiner Gemeinde ausgewählt hat, müsste sonst als Fall von grober Fahrlässigkeit geahndet werden. Aber es waren eben nicht Fleisch und Blut, die Petrus die entscheidende Erkenntnis vermittelt haben. Im Alten Testament ist die Sache noch eindeutiger. Für gewöhnlich ist die erste Reaktion des Berufenen der ablehnende Hinweis auf die eigene Unfähigkeit. Mose erklärt, er sei kein guter Redner, Jeremia wirft ein, er sei zu jung und so weiter. Man stelle sich vor, einer dieser beiden hätte versucht, seine Berufung anhand eines Selbsteinschätzungstests zu ermitteln. Erst recht aber richtet sich die Berufung nicht nach den persönlichen Vorlieben und Interessen des Berufenen. Wer hätte schon Lust darauf, dem eigenen Volk den Zorn Gottes zu verkünden oder sich mit der Weltmacht Ägypten anzulegen? Würde das entsprechende Vorgehen den eigenen Wünschen entsprechen, bräuchte Gott denjenigen ja gar nicht erst zu berufen, da er es wohl früher oder später von selbst tun würde. Daraus ergibt sich sogleich der nächste Punkt.
Berufungen sind etwas äußerst Seltenes
2. Die Berufenen haben nicht um ihre Berufung gebeten, geschweige denn aktiv danach gesucht. Am eindrücklichsten ist dies wohl dem Buch Jona zu entnehmen. Schon der erste Satz der Erzählung ist bezeichnend. „Das Wort des Herrn geschah zu Jona.“ So fängt die Geschichte an. Nicht etwa mit „Jona bat Gott um eine Berufung“ oder „Jona füllte einen Fragebogen aus“. Das berufende Wort Gottes geschieht einfach, ohne Bitte, ohne Vorwarnung. Der Ruf kommt von außen, nicht von innen. Und Jonas Reaktion zeugt ja bekanntlich auch nicht gerade von großer Begeisterung. Er versucht, vor Gottes Ruf zu fliehen, und kann erst durch tiefgreifende Maßnahmen dazu gebracht werden, nach Ninive zu gehen, um Gottes Gericht über die Stadt anzukündigen. Ein Berufener gegen eine ganze Metropole. Damit kommen wir auch schon zu unserem letzten Punkt.
3. Berufungen sind etwas äußerst Seltenes. Nur der moderne Gleichheitswahn, dem jeder Sinn für das Heilige, das Herausragende abhandengekommen ist, konnte die Vorstellung ersinnen, dass jeder Mensch eine persönliche Berufung von Gott erhalte. Doch wenn man den eigentlichen Charakter einer Berufung bedenkt, gibt es gar keinen Anlass, sich über die geringe Wahrscheinlichkeit einer solchen zu ärgern. Seien wir ehrlich, die meisten von uns haben mit ihren unberufenen Leben mehr als genug zu tun.
Die Reihe zu theologischen Denkfehlern wird im nächsten „Credo“ fortgesetzt
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